Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
als wütend, er tobte vor Wut. Kann ich ihm aber auch nicht verdenken.«
»Sie sind – Sie waren sein Vater, ist das richtig?«
Er nickte.
»Er wurde aber doch mehr als nur im Stich gelassen. Sie – oder sonst irgendwer – ließen ihn doch entführen.«
Wieder nickte er, dann sagte er: »Ich wusste nichts davon. Das ist die Wahrheit. Und mehr von der Geschichte werde ich Ihnen auch nicht sagen.« Er schaute mich wieder an. »Ich werde es Emma erzählen. Ich meine, was außer der Schießerei und davor noch war. Was sie damit macht, ist dann ihre Sache: Sie kann es aufschreiben und als Teil von ihrem Artikel in der Zeitung bringen.«
»Wenn es veröffentlicht wird, Mr Slade, warum erzählen Sie es mir dann nicht jetzt?«
»Weil Sie es nicht verdienen, Sheriff.«
Schön zu wissen, dass ich die Ehre hatte, Morris Slade so mit dem Sheriff reden zu hören. Aber mehr noch, ich fand es eins der seltsamsten Dinge, die ich je gehört hatte. »… nicht verdienen?«
Es entstand eine lange Pause, während der die beiden einander schweigend musterten.
Als der Sheriff seinen Stuhl schließlich zurückschob und mich zum Gehen aufforderte, verzögerte ich meinen Abgang, indem ich das Erstbeste fragte, was mir in den Sinn kam: »Warum haben Sie ihn Fey genannt statt Ralph?«
Er lächelte. »Weil mein Vater Ralph hieß – und den hasste ich.«
»Emma«, wiederholte der Sheriff und zog mich fort.
Das Einzige, woran ich denken konnte, waren all die Informationen, die Antworten, die ich niemals bekommen würde. Wieso sind Sie jetzt hierhergekommen? Wieso wollte Ralph sich nicht an seiner Mutter Imogen rächen? Wieso ließen die ihn entführen? Wieso gingen Sie nach Cold Flat Junction und suchten Ben Queen? – Und was hatte das alles mit Rose zu tun? Diese letzte Frage würde ich wohl nicht stellen wollen.
Als ich über die Schulter einen Blick auf Morris Slade warf, sah er in dem Moment aus, als sei er auch in der Stadt der Tragödien zu Hause. Er schien zu glauben, es war genug. Er wollte, dass Ben Queen aus der Sache rausgehalten wurde und wusste offenbar nicht, dass Ben sich gestellt hatte.
Sie wollten sich gegenseitig retten.
63. KAPITEL
Die schwere Kirchentür machte ein tiefes Sauggeräusch, als sie hinter mir zufiel. Ich ging den Mittelgang hinunter und überlegte, wo ich eigentlich hinwollte. Weil ich es nicht wusste, setzte ich mich in eine Kirchenbank und schaute um mich. Die Bleiglasfenster waren hübsch, helle durchbrochene Bilder, leuchtende blaue und rote Stückchen.
St. Michael lag direkt hinter dem Gerichtsgebäude auf der anderen Straßenseite. Wo Father Freeman wohl steckte, fragte ich mich und zog ein Gesangbuch aus dem Ständer, um es durchzublättern und ein bisschen drin zu lesen. Nicht mit Robert Frost zu vergleichen.
Und ich wusste auch, warum. In den Kirchenliedern ging es immer um Hoffnung und Sieg. Auch wenn einem die Texte nicht so vorkamen, das Ende handelte immer von Hoffnung und Sieg, und dazu gab es noch eine gehörige Portion Gloria.
Father Freeman trat aus einer Seitentür und ging zu dem langen Tisch hinüber, wo die Sachen für den katholischen Gottesdienst aufbewahrt wurden, unter der Decke steckten sozusagen. Es sah aus, als würde er Kerzen, Kelch und anderes anordnen, wie für eine Dinnerparty. Dazu machte er seine diversen Verbeugungen und Kratzfüße und Kreuzeszeichen, und ich fragte mich, wie viel davon er tatsächlich glaubte.
Er ließ den Blick über die abwesende Gemeinde schweifen und spürte in seiner priesterlichen Geisteshaltung wohl, dass da jemand war. Er sah mich und winkte, dann verschwand er wieder durch den Türbogen und tauchte, nachdem er sich seines weißen Kittels entledigt hatte, kurz darauf wieder auf.
»Hallo, Emma«, sagte er, setzte sich auf die Kirchenbank vor meiner und drehte sich zu mir um. »Wolltest du mich sprechen?«
»Nein, Gott wollte ich sprechen, aber der ist nicht da, also begnüge ich mich mit Ihnen.«
»Danke.« Er schwieg, wahrscheinlich um mir Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen, was ich aber nicht tat.
»Das mit Ralph Diggs habe ich erfahren«, sagte er. »Das war schrecklich. Wie ist dir denn zumute? Ich weiß, dass er im Hotel gearbeitet hat, aber wart ihr befreundet?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht besonders. Ich find es schlimm, wen sie verhaftet haben und wer dafür ins Gefängnis kommt.«
»Du meinst Morris Slade?«
»Ich meine Ben Queen.«
»Oh.« Er legte die Stirn in Falten. »Das wusste ich noch nicht. Der
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