Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Tasse auf den Tisch, als wäre er sauer auf den Kaffee oder das Rainbow oder uns. Oder nicht allein auf uns, sondern auf alles. »Die Gerechtigkeit muss man wohl Gott überlassen.« Er stand auf und nahm seine Mütze vom Haken. »Tut mir leid. Bin nicht besonders gut gelaunt. Ich muss mit den Diggs reden.«
Ich horchte auf. »Diggs? Meinen Sie die Adoptiveltern?«
Der Sheriff musste schmunzeln. »Jedenfalls das Paar, das Ralph Diggs aufgezogen hat.«
»Müssen die, hm, seine Leiche identifizieren?«, wollte Maud wissen. »Die Armen!«
Der Sheriff nickte. »Ich fürchte, ja. Sie kommen von Doylestown her.« Er schaute auf seine Uhr. »Pennsylvania.«
Er schüttelte sein Handgelenk, als könnte er dadurch die Zeit zum Stillstehen bringen. »Sind wahrscheinlich schon hier. Maureen kann sich ja um sie kümmern, bis ich da bin. Ich muss vorher noch zum Bürgermeister.«
Schon hier? Ich brannte geradezu darauf, ihn zu begleiten, nicht zu Bürgermeister Sims, sondern ins Gerichtsgebäude.
Er konnte meine Gedanken lesen. So was konnte er. »Vergiss es, Emma. Du kannst nicht mit ihnen reden.«
»Wer sagt denn, dass ich das will?« Ich pickte die Krümel von meinem Donut auf, leckte mir die Finger ab und bedachte nun den Sheriff mit einem Blick, der hoffentlich gleichgültig wirkte.
»Die sind in Trauer, Emma. Die wollen nicht mit einem Wust von Fragen überhäuft werden.«
»Von mir nicht. Na, aber Sie werden ihnen doch einen ganzen Haufen Fragen stellen.«
»Nur das Nötigste.« Er sah wieder auf die Uhr. »Also, bis dann.«
Sobald er aus der Tür war, sprang ich auf. Ich verabschiedete mich von Maud und rannte nach vorn. Ihre Frage: »Wo willst du denn …?« folgte mir bis zur Kuchenvitrine, wurde aber nicht beantwortet. Zu Wanda sagte ich, ich hätte gern ein halbes Dutzend Donuts mit Streuseln – Vanille, Schoko und bunte. Ich erstand vier Tassen schwarzen Kaffee, mit Sahne und Zucker extra, die sie mir in einen Pappkartonträger stellte. Dann trug ich das ganze Zeug über die Straße und ins Gerichtsgebäude. Allzu schnell laufen konnte ich nicht, wegen des Kaffees.
Vor der Tür zum Büro des Sheriffs blieb ich stehen und horchte. Donnys Stimme war natürlich am lautesten, doch ich hörte auch eine Frauenstimme, die nicht die von Maureen war. Ich richtete mich auf, balancierte die Tüte mit den Donuts auf dem Kaffeetablett und öffnete die Tür.
Donny fuhr herum. »Was machst du denn hier?«
Er hatte sich sein »amtliches Gehabe« zugelegt und lief, die Daumen im Gürtel verhakt, ziellos in der Gegend rum. Für ihn war in diesen Tagen mächtig was los, und er genoss es sichtlich. Gerade erzählte er den Diggs, einer von der Bundespolizei hätte soeben Ralphs Wagen gefunden, versteckt im Wald gegenüber vom Silver Pear.
Ich sagte: »Sie meinen, er hat ihn dort stehen lassen und ist den Weg vollends zu Fuß gegangen.«
»Ich weiß gar nich, was dich das angeht.«
Ich versuchte, ein verlegenes und peinlich berührtes Gesicht zu machen. »Es ist bloß … der Sheriff sagte, Mr und Mrs Diggs wären den ganzen Weg von« – den Namen der Stadt hatte ich vergessen – »von Pennsylvania hergekommen, und da dachte ich mir, sie möchten vielleicht einen Kaffee …« Ich schaute zu dem älteren Paar hinüber, das neben Donnys Schreibtisch saß, beide korpulent, braunhaarig und blass.
Mrs Diggs machte den Mund auf. »Ach, das ist aber wirklich lieb von dir.« Sie hielt ein zusammengeknülltes Taschentuch in der Hand. Mr Diggs bedankte sich mit erstickter Stimme und ließ den Kopf hängen.
»Für Sie hab ich auch welchen mitgebracht«, sagte ich zu Donny, »und für Maureen.«
Von ihrem Schreibtisch hinten lächelte Maureen herüber und winkte mir dankend zu.
»Hm, ja, okay.« Donny nahm sich einen Becher und zwei Päckchen Zucker. »Sind das da Donuts?«
Ich reichte ihm die Tüte. Ohne sie den Diggs anzubieten, nahm er sich einen mit Schokoglasur und begutachtete ihn ausgiebig. Er brummte ein Dankeschön und gab mir die Tüte wieder zurück.
Ich bot den beiden das Kaffeetablett an. Jeder von ihnen nahm sich einen Becher, er auch eine Sahne. Sie trank ihren schwarz und lehnte die Tüte mit den Donuts dankend ab. Wenn einem gerade der Sohn ermordet worden ist, sieht wahrscheinlich nicht mal ein Donut verlockend aus.
»Mein herzliches Beileid«, sagte ich, in Erinnerung an das, was ich den Sheriff hatte sagen hören.
Beide nickten. Sie presste sich das Taschentuch an die Nase.
Der Sheriff würde bestimmt
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