Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
fiel mir Auroras Drink wieder ein. Mrs Davidow war an ihrem zweiten Martini, was bedeutete, dass sie vorhatte, in der Küche zu bleiben. Ich schnappte mir einen rubinroten Kelch, schöpfte etwas Eis aus der Schüssel mit den Butterstückchen und schmiss es hinein. Dann sauste ich durch den langen Flur in die Hotelhalle und ins hintere Büro.
Ree-Jane posierte wieder am Kamin, hatte den Arm über den Kaminsims drapiert und führte Selbstgespräche. Sie hatte sich eins von ihren teuren Heather-Gay-Struthers-Kleidern angezogen, diesmal ein perlblaues mit einem Bausch von messerscharfen Falten im Rock.
Im hinteren Büro inspizierte ich die Flaschen, die in Zweierreihen auf dem Regal standen. Bei einer Flasche Southern Comfort schaute ich nach, wie voll sie war: halb voll, also brauchbar.
Ich hatte schon länger keinen Cold Comfort mehr gemacht und wusste das Rezept nicht mehr so genau. Rezept? Wem machte ich hier eigentlich was vor? Wer scherte sich drum? Doch wohl am allerwenigsten Aurora! Ich schenkte einen Fingerbreit von dem Southern Comfort ins Glas und fügte etwas Crème de Menthe hinzu, dann ein wenig Brandy. Eigentlich brauchte ich etwas Saft oder irgendetwas Leichtes wie Sodawasser, konnte aber nicht in die Küche zurück. Da fiel mir ein, dass Will gern ein oder zwei Flaschen von dem Orange Crush in der untersten Schublade des Schreibmaschinentischs im Vorzimmer bunkerte.
Ich ging also dorthin, wobei ich mich außerhalb von Ree-Janes Sichtachse hielt, und schaute in der Schublade nach. Rasch öffnete ich eine Flasche und schenkte ein, bis das Glas voll war. Dann verschloss ich die Flasche wieder, stellte sie zurück in die Schublade, kehrte ins Büro zurück und vollendete den Drink mit einer Cocktailkirsche auf einem Plastikrührstäbchen.
Weil ich kein Tablett hatte, musste ich das Glas von Hand tragen, was im Speisesaal strikt verboten war. Essen und Trinken musste dem Gast immer auf einem Tablett gebracht werden. Wahrscheinlich war ich deshalb mit dem Ding so geschickt. Vera war nicht die Einzige, die ein Tablett auf fünf Fingern über dem Kopf balancieren konnte.
Ree-Jane stand mit dem Rücken zur Treppe und war so versunken in das, was sie zu sich selber sagte, dass sie mich nicht hörte. Wieder so eine Gelegenheit! Man sollte meinen, inzwischen wäre sie schlauer.
Ich blieb ein Weilchen auf der breiten Treppe stehen, um sie zu beobachten. Sie redete vielleicht mit sich selber, mit einem unsichtbaren Gefährten, studierte eine Rolle für ein Stück ein – allerdings nicht für Mord in den Wolken , denn ich wusste, da würden Will und Mill sie nicht auf hundert Meter heranlassen. Es gab aber auch noch andere Möglichkeiten: Vielleicht übte sie eine Rede ein, um sie vor den Vereinten Nationen zu halten, oder nahm freudig den Heiratsantrag an, den ihr der Herzog von Oxford machte. Vielleicht ging es auch um eine Probeaufnahme für Cecil B. DeMille, den großen Filmproduzenten, oder sie warf den Leuten zu beiden Seiten des Laufstegs, über den sie während der Modeschau in Paris tänzelte, Kusshändchen zu.
Obwohl Auroras Drink in meiner Hand allmählich warm wurde, musste ich einfach was sagen: »Es gibt bloß eine weibliche Figur in dem Stück, und die ist tot, und die spiele ich.«
Ree-Jane wirbelte herum wie eine Tambourmajorette (die sie ja vielleicht auch einübte), und die Plisseefalten ihres Rocks bildeten einen hübschen Fächer. »Was machst du denn hier?«
»Ich wohne hier.«
»Du spionierst mir hinterher!«
Ich zuckte bloß die Achseln.
Indem sie den Kopf zurückwarf, was sie von Veronica Lake gelernt hatte (ihrer zukünftigen Filmpartnerin), sagte sie: »Ach, das Stück? Ich hab von der weiblichen Hauptrolle gehört und abgelehnt.«
Ich war völlig perplex. Ree-Jane konnte plötzlich schlagfertig sein! Beinahe hätte ich Beifall geklatscht. Sie natürlich auch. Ich staunte nicht schlecht über dieses Fitzelchen an klarem Gedanken aus dem Hirn von Ree-Jane (als hätte ich schon die ganze Zeit danach herumgekramt) und setzte meinen Weg nach oben fort.
»Wird auch allmählich Zeit, Miss! Allerdringendste Eisenbahn.«
Das hörte sich etwas schief an, doch ich wusste, was Aurora sagen wollte. »Ich hab auch noch was anderes zu tun«, meinte ich. »Heute sind Dinnergäste da. Zehn Stück.«
Sie schwenkte ihren Cold Comfort im Glas herum, bevor sie trank. »Wer?«
Wie jeder normale Mensch war Aurora an Klatsch interessiert. »Die Baums.«
Sie ließ missbilligendes Lippenschnalzen
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