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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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ertönen. »Die machen sich doch bloß wichtig, wollen sich in die besten Kreise einkaufen, die gesellschaftliche Stufenleiter hoch.« Sie hielt ihren roten Kelch gegen das Licht, so dass es in der untergehenden Sonne auf ihren silbernen Häkelhandschuhen aussah wie Blutspritzer.
    »Die was?« Ich war wirklich wissbegierig.
    »In die feine Gesellschaft natürlich.« Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Drink.
    »Von La Porte? In La Porte gibt’s doch gar keine Gesellschaft, geschweige denn eine feine.«
    Aurora stellte ihren Drink lange genug ab, um mit dem Finger in meine Richtung zu wackeln. »Da irrst du dich aber, Miss, die gibt es durchaus, und ich war mal ihre Anführerin!«
    Hätte sie sich auf eine Meute Schlittenhunde bezogen, dann hätte ich ihr geglaubt. Aber feine Gesellschaft? »Die gibt’s doch heute nicht mehr, oder?«
    »Oh, die eine oder andere meint, sie hätte eine Leitersprosse erklommen, und schon ist sie – wusch !« Ihr Glas landete auf der Armlehne. »… wieder unten, fällt platt auf den Arsch. Oh, Verzeihung. Was ist denn? In deinen Stirnfurchen könnte man ja Bohnen ziehen.« Sie leerte ihr Glas mit ein paar langen Schlucken.
    Ich hatte wohl mein bestürztes Stirnrunzeln aufgesetzt. »Das hier ist ein Städtchen am hintersten Zipfel von Maryland, beinahe West Virginia …«
    »Wo es, wie ich mich erinnere, Spirituosenhandlungen gibt …« Sie wackelte bedeutungsvoll mit dem Glas.
    Ich kümmerte mich nicht drum. »Wir haben hier arme Leute und ein paar, die ziemlich viel Kohle haben, aber eine feine Gesellschaft haben wir nicht.«
    Sie sah aus, als würde sie gleich Kugeln speien. »Meine Güte, Mädchen, mehr fällt dir nicht ein? Nach deinem ganzen Gerede über die Devereaus und die Woodruffs und das Belle Ruin?«
    »Die Devereaus? Die gehörten zur feinen Gesellschaft?« Und ich hatte geglaubt, es wären bloß lauter Mörderinnen.
    »Ja, natürlich. Schau dir Iris an. Schau dir Elizabeth an.«
    »Kann ich nicht. Die sind tot.« Mich überkam plötzlich so ein beängstigendes Gefühl, dass es zu viele Leute gab, die ich mir nicht anschauen konnte. Ich war auf Aurora Paradise und Isabel Barnett und Konsorten angewiesen, doch als mir einfiel, weshalb ich eigentlich hier heraufgekommen war, hellte sich meine Stimmung wieder auf: um mir die Fotos anzuschauen. Aurora hielt mir ihr Glas hin.
    »Gleich. Erst will ich die Bilder noch mal sehen, die von den Slades und den Woodruffs.«
    »Hab ich verloren. Also geh runter und mach mir noch mal einen Cold Comfort.«
    »Die hast du nicht verloren. Die sind in einer blauen Satinschachtel, die du in deinem Schrankkoffer aufbewahrst.« Ich deutete auf den mit schönen Kleidern behangenen Koffer.
    Mit einem tiefen Seufzer stellte sie ihr Glas hin. Und rollte mit ihrer »Ich werd hier ausgenutzt«-Miene ihren Drehstuhl zum Schrankkoffer hinüber, zog eine der Schubladen auf und holte die blaue Schachtel hervor. Mit einem erneuten Seufzer rollte sie wieder zurück. Dann wühlte sie in der Schachtel und förderte die Fotos zutage. Aber dann sagte sie: »Das eine von Morris Slade fehlt ja. Als du sie dir das letzte Mal angeschaut hast, hatte ich es noch.« Sie breitete mehrere Bilder aus. »Also, wo ist er?«
    »Ich hab keine Ahnung.« Hatte ich natürlich doch. Das Foto lag bei mir in einer Schublade unter den Socken.
    »Na, warte. Da, was ist mit denen?« Sie hielt mir mehrere Fotos hin.
    Ich nahm das Bild, auf dem Imogen Slade ihr Baby hielt. Es war in eine Decke gewickelt und das Gesichtchen nicht zu sehen. »Das hier mit dem Baby drauf. Du sagtest, sie waren im Belle Ruin. Wenn das stimmt, heißt das, Miss Isabel lügt nicht, wenn sie behauptet, sie hat das Baby gesehen.«
    Aurora stieß einen gekünstelten Seufzer aus. »Eine Lügnerin ist sie doch. Aber die arme Seele kann wahrscheinlich gar nicht anders.«
    Dass Aurora sie eine »arme Seele« nannte, bedeutete eigentlich, dass es Aurora piepegal war. Sie hatte keinerlei Mitgefühl. Ich blieb am Ball: »Es geht darum, dass dieses Baby aus dem Hotel weggebracht wurde. Entführt, geklaut, was auch immer. Die Einzige, die das Baby tatsächlich gesehen hat und noch da ist, ist Miss Isabel …«
    »Na, und derjenige, der das Bild da gemacht hat.«
    »Ja, aber man sieht bloß die Decke, nicht das Baby.«
    Aurora machte ein gequältes Gesicht. »Mädchen, wenn du was nicht glauben willst, lieferst du ja mehr plausible Erklärungen als ein Politiker. Wieso nimmst du nicht einfach das Naheliegendste?

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