Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
gäbe dort jedenfalls alles, was Lola Davidow brauchte: Der offizielle Spirituosenladen war direkt jenseits der Grenze, etwa zwanzig Meilen von La Porte entfernt, eine bequeme Autofahrt (vor allem, wenn man sich in den breiten Spurrillen von Mrs Davidows Kombi hielt).
Meine Mutter stammte von dort und mein Großvater, kein Paradise, sondern ein Dunn, ebenfalls. Der Vater meiner Mutter. Mein Großvater hatte dort auch ein Hotel besessen, das Hotelgeschäft lag meiner Mutter also vielleicht im Blut.
Doch obwohl es so nah war, fuhr meine Mutter nie dorthin. Ich an ihrer Stelle wäre andauernd dort gewesen, um mich umzutun. Aber vielleicht ist das, was man zurückgelassen hat, für manche Leute nur schwer zu ertragen.
Ich würde bei meinem alten Haus anklopfen, und wenn die jetzigen Bewohner an die Tür kämen (vielleicht eine ältere Frau in Blümchenschürze), würde ich sagen: »Entschuldigen Sie die Störung, aber ich hab früher mal hier gewohnt, das heißt, meine Familie, aber die sind alle bei einem Zugunglück umgekommen, und meine sterbende Mutter hat mich noch inständig angefleht, ich soll zu unserem alten Haus zurückgehen – Emma, geh hin und finde die Fotos!« Inzwischen wäre ich natürlich bereits drinnen und würde was von einem Fotoalbum erzählen, das im Obergeschoss vergraben sein musste, vielleicht steckte es noch in einer Sitznische am Fenster … und so weiter. Ich würde auf jeden Fall mein altes Zimmer sehen wollen.
Ich hatte mich bei den Moomas auf den Randstein vorm Haus gesetzt (obwohl ich nicht wusste, welche Moomas, es gab ja so viele). Körbe mit Petunien und Stiefmütterchen hingen nebeneinander vom Verandadach und sahen durstig aus. Dann stand ich auf und ging Kieselsteine vor mir her kickend weiter.
Mrs Louderbacks Haus hieß »Rastplatz für Reisende«, was ich für eine Wahrsagerin ganz besonders passend fand. Als könnte man endlich mal haltmachen und versuchen, sein eigenes verkorkstes Leben wieder in Ordnung zu bringen, und jemand anders die Kontrolle überlassen. So funktionierte das für mich natürlich eigentlich nicht, aber dann dachte ich mir (ganz philosophisch): Schau dir dein Leben doch an – wie sollte es auch?
Die Frau, die die Tür aufmachte, war Mrs Louderbacks Mitbewohnerin und immer stumm und grimmig. Ich hielt sie für bösartig und fragte mich, wieso Mrs Louderback sie die Türsteherin machen ließ. Vielleicht dachte sie, wenn einer ihrer Klienten sich durch die Verdrießlichkeit dieser Frau vom Kommen abhalten ließ, nun, dann war das Schicksal dieser Person vielleicht schon in Stein gemeißelt und würde sich durch kein Kartenumdrehen in eine andere Richtung wenden lassen.
Im Inneren des Hauses war es sehr kühl und schattig. Ich wurde durch das mit dunklen, löwentatzenfüßigen Möbeln vollgestellte Wohnzimmer in einen kleinen Raum neben der Küche geführt. In der Küche wurde die Zukunft vorausgesagt, und dieser kleine Raum diente als Salon, als Wartezimmer.
Dort saßen noch zwei andere Leute, die aussahen wie Mutter und Tochter. Die Jüngere mochte in meinem Alter sein und sah dumm aus. Man mag über mich sagen, was man will, aber dumm sehe ich nicht aus. Dieses Mädchen hatte den Kopf an die Schulter ihrer Mutter gelehnt und starrte mich an. Ich hatte noch nie zu denen gehört, die sich vor dem Blick eines anderen verstecken, und glotzte zurück. Sie regte sich kein bisschen, nicht einmal ihre Augenlider flatterten. Sie starrte bloß zu mir herüber.
Die Mutter blätterte in einem Ladies’ Home Journal , blätterte bloß, ohne zu lesen, als würde sie sich über das unnütze Journal ärgern. Den stieren Blick ihres Mädchens bemerkte sie sicher nicht. Ich wollte gerade aufstehen und hinübergehen, um die Mutter zu fragen, ob ihre Tochter vielleicht tot sei, als die Tür aufging und eine Frau mittleren Alters herauskam, steifbeinig den Raum durchquerte und, ohne jemanden oder etwas eines Blickes zu würdigen, hinausging. Ich überlegte, ob Mrs Louderback die Leute hypnotisierte und sie dann allein nach Hause finden ließ.
»Hallo, Emma.«
Da ich anscheinend die Nächste war, stand ich von meinem Stuhl auf. Doch irgendetwas sträubte sich in mir. Ich wusste nicht, was ich eigentlich wollte.
In der Küche duftete es nach frisch gebackenem Brot. Es war eine sehr ordentliche, reinliche Küche. Kein Kratzerchen auf den weißen Arbeitsflächen, und der weiße Emailherd sah aus wie neu.
Mrs Louderback reihte die Spielkarten auf, und die erste war (ja,
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