Das Versprechen des Opals
entfernt, auf ihr Alter stolz zu sein: Sie verfluchte es. Was würde sie nicht dafür geben, noch einmal jung und gelenkig zu sein! Die ganze Nacht schlafen zu können, ohne zur Toilette zu müssen. Stundenlang über die Weiden zu reiten, ohne sich danach tagelang steif und zerschlagen zu fühlen.
Sie zog eine Grimasse. Die Alternative war nicht verlockend, aber sie konnte nicht gut akzeptieren, was mit ihr geschah. Ihr Leben lang war sie eine Kämpferin gewesen, und sie wollte verdammt sein, wenn sie jetzt aufgab. Sie grunzte zufrieden, als es ihr endlich gelungen war, die Schnürsenkel zuzubinden.Sie warf noch einen Blick auf die Spieldose und schaute dann hinaus über die Koppel.
Der Himmel war heller geworden; im ersten zarten Rosa der Morgendämmerung erhob sich die Silhouette der Bäume vor den dunklen Nebengebäuden. Die Vögel erwachten, und das scharfe, raspelnde Krächzen der Kakadus wurde gemildert durch das rollende, beinahe sinnliche Schettern der Elstern.
Miriam blieb auf der Veranda. Rauch wehte aus dem Kamin des Küchenhauses, und die Vögel erhoben sich zum ersten Flug des Tages, eine Wolke aus Rosa, Weiß und Grau, während die kleinen grünen und blauen Sittiche begeistert zwischen den Gallahs umherschwirrten und Kurs auf den Billabong nahmen. Miriam beobachtete sie eine Zeit lang, und ihr scharfes Auge sah, dass die ersten Kleinen ihre Nester verlassen hatten. Eine neue Generation war flügge geworden. Bald würde es Zeit sein, ihr Platz zu machen.
»Aber noch nicht«, flüsterte Miriam. »Ich brauche noch Zeit, um erst alles in Ordnung zu bringen.«
Widerstrebend richtete sie ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf die Spieldose. Das Kirschholz war mit Perlmuttintarsien verziert und trug Zeichen des Alters, die den Zauber jedoch nur verstärkten, denn diese Kratzer und Schrammen erzählten von weiten Reisen durch die ganze Welt, von Zeiten, die sie in den rauesten Gegenden der Erde verbracht hatte. Als Kind hatte Miriam sich auszumalen versucht, wie sie entstanden waren, hatte sich bemüht, die Menschen heraufzubeschwören, die diese Spieldose einst besessen und so gehütet hatten, dass sie heil überdauert hatte.
»Bis heute«, brummte sie verärgert und betrachtete den zerbrochenen Sockel. Ihre Unachtsamkeit hatte eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die leicht außer Kontrolle geraten konnte, wenn man nicht Acht gab. Denn durch das Zerbrechender Spieldose war ein Geheimnis ans Licht gekommen – ein Geheimnis, das das Leben ihrer ganzen Familie für immer verändern könnte.
Sie strich mit einem Finger über den Deckel, und ihre Zweifel wuchsen. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Geister der Vergangenheit ruhen zu lassen? Zu akzeptieren, was gefunden worden war, und es zu benutzen, um ihrer Familie zu helfen? Das hier konnte sie nicht gebrauchen – nicht jetzt. Aber wie sollte sie den Fund ignorieren? Es war der erste echte Beweis dafür, dass ihr Verdacht zutreffend gewesen war, ein handfestes Geschenk aus der Vergangenheit – und es schrie danach, dass die Wahrheit offenbart wurde.
Ungelenk drehte sie den winzigen goldenen Schlüssel und klappte den Deckel auf. Der schwarze Harlekin tanzte mit seiner bleichen Columbine vor den wolkigen Spiegeln in vollkommener Harmonie mit den blechernen Klängen eines Strauß-Walzers, und ihr Gesichtsausdruck hinter den Masken war rätselhaft.
Miriam betrachtete das schimmernde Kostüm des Harlekins und die zierlichen Rüschen am Kleid der Columbine. Schön war die Spieluhr, musste sie gestehen, und wahrscheinlich sehr selten, denn ein schwarzer Harlekin war ungewöhnlich. Aber schon als Kind hatte sie die glasigen Augen hinter den Masken als gespenstisch empfunden, und die gefühllose Umarmung war ihr steif und gekünstelt vorgekommen. Sie verzog das Gesicht. Vielleicht hatten die beiden immer gewusst, welches Geheimnis sich unter ihnen verbarg, und deswegen so hochmütig ausgesehen.
Die Musik erstarb, und die Tänzer kamen zum Stehen. Miriam schloss den Deckel und versuchte die bevorstehende Ankunft ihres Besuchers zu vergessen, indem sie sich den Klängen und Düften einer Vergangenheit hingab, die sie nur aus den Erzählungen ihrer Kindheit kannte. Es war eine Zeit,in der sie noch nicht geboren war. Aber sie war dennoch die stumme, unschuldige Zeugin eines Dramas gewesen, dessen letzter Akt fünfundsiebzig Jahre später stattfinden sollte.
EINS
I rland 1893
Fröstelnd zog Maureen sich den dünnen Mantel fester um die Schultern,
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