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Das Versprechen

Das Versprechen

Titel: Das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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auch schon vorgekommen, daß Sie einen Fall nicht zu lösen vermochten?«
    Der Arzt schaute Matthäi erstaunt an. Er war betroffen über diese Frage, beunruhigt, wußte nicht, was sie sollte.
    »Die meisten meiner Fälle sind nicht zu lösen«, antwortete er endlich ehrlich, obwohl er im gleichen Augenblick spürte, daß er diese Antwort einem Patienten gegenüber, als den er Matthäi doch sah, nie hätte geben dürfen.
    »Das kann ich mir bei Ihrem Beruf denken«, antwortete Matthäi mit einer Ironie, die den Arzt traurig stimmte.
    »Sind Sie nur hierher gekommen, um mir diese Frage zu stellen?«
    »Auch.«
    »Was ist denn um Gottes willen mit Ihnen los? Sie sind doch sonst unser vernünftigster Mann?« fragte der Arzt verlegen.
    »Ich weiß nicht«, erwiderte Matthäi unsicher - »Das ermordete Mädchen.«
    »Gritli Moser?«
    »Ich muß immer an dieses Mädchen denken.«
    »Es läßt Ihnen keine Ruhe?«
    »Haben Sie Kinder?« fragte Matthäi.
    »Ich bin ja auch nicht verheiratet«, antwortete der Arzt leise und aufs neue verlegen.
    »So, auch nicht.« Matthäi schwieg düster. »Sehen Sie, Locher«, erklärte er dann, »ich habe genau hingeschaut und nicht weggeblickt wie mein Nachfolger Henzi, der Normale: Ein verstümmelter Leichnam lag im Laub, nur das Gesicht unberührt, ein Kindergesicht. Ich habe hingestarrt, im Gebüsch lagen noch ein roter Rock und Gebäck. Aber das war nicht das Fürchterliche.«
    Matthäi schwieg aufs neue. Wie erschrocken. Er war ein Mensch, der nie auf sich zu sprechen kam und nun doch gezwungen war, es einmal zu tun, weil er diesen kleinen vogelartigen Arzt mit der lächerlichen Brille brauchte, der ihm
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    allein weiterhelfen konnte, dem er aber dafür sein Vertrauen schenken mußte.
    »Sie haben sich vorhin mit Recht gewundert«, fuhr er endlich fort, »daß ich immer noch im Hotel wohne. Ich wollte mich nicht mit der Welt konfrontieren, ich wollte sie wie ein Routinier zwar bewältigen, aber nicht mit ihr leiden. Ich wollte ihr gegenüber überlegen bleiben, den Kopf nicht verlieren und sie beherrschen wie ein Techniker. Ich hielt den Anblick des Mädchens aus, doch als ich vor den Eltern stand, hielt ich es plötzlich nicht mehr aus, da wollte ich auf einmal fort von diesem verfluchten Hause im Moosbach, und so versprach ich bei meiner Seligkeit, den Mörder zu finden, nur um das Leid dieser Eltern nicht weiter sehen zu müssen, gleichgültig darüber, daß ich dieses Versprechen nicht halten konnte, weil ich doch nach Jordanien fliegen mußte. Und dann ließ ich die alte Gleichgültigkeit wieder in mir aufsteigen, Locher. Das war so scheußlich. Ich wehrte
    mich nicht für den Hausierer. Ich ließ alles geschehen. Ich wurde wieder die Unpersönlichkeit, die ich vorher war, >Matthäi am Letzten<, wie mich das Niederdorf nennt. Ich kniff wieder aus in die Ruhe, in die Überlegenheit, in die Form, in die Unmenschlichkeit, bis ich auf dem Flugplatz die Kinder sah.«
    Der Arzt schob seine Notizen weg.
    »Ich kehrte um«, sagte Matthäi. »Den Rest wissen Sie.«
    »Und nun?« fragte der Arzt.
    »Und nun bin ich hier. Weil ich nicht an die Schuld des Hausierers glaube und nun mein Versprechen halten muß.«
    Der Arzt erhob sich, ging zum Fenster.
    Der Wärter erschien, hinter ihm der zweite.
    »Geht in die Abteilung«, sagte der Arzt, »ich brauche euch nicht mehr.«
    Matthäi schenkte sich Kognak ein, lachte. »Gut, dieser Remy Martin.«
    Der Arzt stand noch immer beim Fenster, starrte hinaus.
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    »Wie soll ich Ihnen beistehen?« fragte er hilflos. »Ich bin kein Kriminalist.« Dann wandte er sich Matthäi zu. »Warum glauben Sie eigentlich an die Unschuld des Hausierers?« fragte er.
    »Hier.«
    Matthäi legte ein Papier auf den Tisch und faltete es sorgfältig auseinander. Es war eine Kinderzeichnung. Rechts unten stand in ungelenker Schrift »Gritli Moser«, und mit Farbstift war ein Mann gezeichnet. Er war groß, größer als die Tannen, die ihn wie merkwürdige Gräser umstanden, gezeichnet, wie Kinder zeichnen, Punkt, Punkt, Komma, Strich, rundherum, fertig ist das Angesicht. Er trug einen schwarzen Hut und schwarze Kleider, und aus der rechten Hand, die eine runde Scheibe war mit fünf Strichen, fielen einige kleine Scheibchen mit vielen Härchen, wie Sterne, auf ein winziges Mädchen hinunter, noch kleiner als die Tannen. Ganz oben, eigentlich schon im Himmel, stand ein schwarzes Automobil, daneben ein merkwürdiges Tier mit seltsamen Hörnern.
    »Diese Zeichnung

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