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Das Versprechen

Das Versprechen

Titel: Das Versprechen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Eigenartig wäre, daß es seine Begegnung in Form eines Märchens erzählt hätte.«
    »Kinderart.«
    Locher schüttelte den Kopf. »Auch Kinder tun nie etwas ohne Grund«, sagte er. »Wahrscheinlich hätte dann der große schwarze Mann dem Gritli verboten, von der geheimnisvollen Zusammenkunft zu erzählen. Und das arme kleine Ding hätte ihm gehorcht und ein Märchen statt der Wahrheit erzählt, sonst hätte vielleicht jemand Verdacht gefaßt und es hätte gerettet werden können. Ich gebe zu, die Geschichte wird in diesem Fall teuflisch. Wurde das Mädchen vergewaltigt?« fragte er dann unvermittelt.
    »Nein«, antwortete Matthäi.
    »Das gleiche ist den Mädchen geschehen, die vor Jahren im Sankt Gallischen und im Kanton Schwyz getötet wurden?«
    »Genau.«
    »Auch mit einem Rasiermesser?«
    »Auch.«
    Der Arzt goß sich nun ebenfalls Kognak ein. »Es handelt sich nicht um einen Lustmord«, meinte er, »sondern um einen Racheakt, der Täter wollte sich durch diese Morde an den Frauen rächen, gleichgültig ob es nun der Hausierer oder der Igelriese des armen Gritli gewesen ist.«
    »Ein Mädchen ist doch keine Frau.«
    Locher ließ sich nicht beirren. »Aber kann bei krankhaften Menschen eine Frau ersetzen«, erklärte er. »Weil der Mörder sich nicht an Frauen wagt, wagt er sich an kleine Mädchen. Er tötet sie anstelle der Frau. Darum wird er sich auch immer an die gleiche Art von Mädchen heranmachen. Prüfen Sie es nach, die Opfer werden sich alle gleichen. Vergessen Sie nicht, daß es sich um einen primitiven Menschen handelt, sei nun der Schwachsinn angeboren oder erst durch Krankheit erworben, solche Menschen haben keine Kontrolle über ihre Triebe. Die
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    Widerstandsfähigkeit, die sie ihren Impulsen entgegenzusetzen haben, ist abnorm gering, es braucht verdammt wenig, etwas geänderter Stoffwechsel, einige degenerierte Zellen, und der Mensch ist ein Tier.«
    »Und der Grund seiner Rache?«
    Der Arzt überlegte. »Vielleicht sexuelle Konflikte«, erklärte er dann, »vielleicht war der Mann von einer Frau unterdrückt oder ausgebeutet. Vielleicht war seine Frau reich und er arm.
    Vielleicht nahm sie eine höhere soziale Stellung ein als er.«
    »Das trifft alles nicht auf den Hausierer zu«, stellte Matthäi fest.
    Der Arzt zuckte die Schultern.
    »Dann wird eben etwas anderes auf ihn zutreffen. Das Absurdeste ist möglich zwischen Mann und Frau.«
    »Besteht die Gefahr neuer Morde weiter?« fragte Matthäi.
    »Falls der Mörder nicht der Hausierer ist.«
    »Wann ist der Mord im Kanton Sankt Gallen geschehen?«
    »Vor fünf Jahren.«
    »Der im Kanton Schwyz?«
    »Vor zwei.«
    »Die Abstände werden von Fall zu Fall geringer«, stellte der Arzt fest. »Das könnte auf die Zunahme einer Krankheit deuten.
    Der Widerstand gegenüber den Affekten muß offenbar immer schwächer werden, und der Kranke würde wahrscheinlich schon in einigen Monaten, ja Wochen einen neuen Mord begehen, falls er eine Gelegenheit dazu fände.«
    »Sein Verhalten in dieser Zwischenzeit?«
    »Zuerst würde der Kranke sich wie erleichtert fühlen«, meinte der Arzt etwas zögernd, »doch bald müßte sich neuer Haß ansammeln, ein neues Bedürfnis nach Rache melden. Er würde sich vorerst in der Nähe von Kindern aufhalten. Vor Schulen etwa, oder auf öffentlichen Plätzen. Dann würde er allmählich wieder mit seinem Wagen herumfahren und ein neues Opfer suchen, und wenn er das Mädchen gefunden hätte, würde er sich wieder anfreunden, bis es dann eben aufs neue geschähe.«
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    Locher schwieg.
    Matthäi nahm die Zeichnung, faltete sie zusammen und schob sie in seine Brusttasche, starrte nach dem Fenster, in welchem nun die Nacht stand.
    »Wünschen Sie mir Glück, den Igelriesen zu finden, Locher«, sagte er.
    Der Arzt schaute ihn betroffen an, begriff auf einmal. »Der Igelriese ist wo hl für Sie mehr als eine bloße Arbeitshypothese, nicht wahr, Matthäi?« sagte er.
    Matthäi gab es zu. »Er ist für mich wirklich. Ich zweifle keinen Augenblick, daß er der Mörder ist.«
    Alles, was er ihm gesagt habe, sei nur eine Spekulation, ein bloßes Gedankenspiel ohne wissenschaftlichen Wert, erklärte der Arzt, darüber verärgert, daß er getäuscht worden war und die Absicht Matthäis nicht durchschaut hatte. Er habe nur auf eine bloße Möglichkeit unter tausend anderen Möglichkeiten hingewiesen. Mit der gleichen Methode könnte man beweisen, daß jeder Beliebige der Mörder sein könnte, warum nicht, jeder Unsinn

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