Das Versprechen
stammt von Gritli Moser«, erklärte Matthäi.
»Ich holte sie aus dem Schulzimmer.«
»Was soll sie denn darstellen?« fragte der Arzt, indem er die Zeichnung hilflos betrachtete.
»Den Igelriesen.«
»Was ist darunter zu verstehen?«
»Gritli erzählte, ein Riese habe ihm im Walde kleine Igel geschenkt. Die Zeichnung stellt diese Begegnung dar«, erläuterte Matthäi und wies auf die kleinen Scheibchen.
»Und nun glauben Sie ...«
»Der Verdacht ist nicht ganz unberechtigt, daß Gritli Moser mit dem Igelriesen seinen Mörder gezeichnet hat.«
»Unsinn, Matthäi«, entgegnete der Arzt unwillig, »diese Zeichnung ist ein bloßes Phantasieprodukt, machen Sie sich da gar keine Hoffnung.«
»Wahrscheinlich«, antwortete Matthäi, »dagegen ist das Automobil aber wieder zu gut beobachtet. Ich möchte sogar
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sagen, daß es sich um einen alten Amerikaner handelt, und auch der Riese ist lebendig gezeichnet.«
»Riesen gibt es doch nicht«, meinte der Arzt ungeduldig.
»Erzählen Sie mir keine Märchen.«
»Ein großer, massiger Mann könnte einem kleinen Mädchen leicht wie ein Riese vorkommen.«
Der Arzt schaute Matthäi verwundert an.
»Sie halten einen groß gewachsenen Mann für den Mörder?«
»Das ist natürlich nur eine vage Vermutung«, wich der Kommissär aus. »Trifft sie zu, fährt der Mörder in einem schwarzen amerikanischen älteren Wagen herum.«
Locher schob die Brille auf die Stirne. Er nahm die Zeichnung in die Hand, betrachtete sie aufmerksam.
»Was soll ich denn?« fragte er unsicher.
»Gesetzt, ich besäße vom Mörder nichts als diese Zeichnung«, erklärte Matthäi, »wäre sie die einzige Spur, die ich verfolgen könnte. Doch in diesem Fall wäre ich wie ein Laie vor einem Röntgenbild. Ich verstünde die Zeichnung nicht zu deuten.«
Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Aus dieser Kinderzeichnung wäre nichts über den Mörder herauszulesen«, antwortete er und legte die Zeichnung wieder auf den Schreibtisch. »Es ist nur möglich, etwas über das Mädchen zu sagen, das die Zeichnung verfertigte. Gritli muß ein intelligentes, aufgewecktes und fröhliches Kind gewesen sein. Kinder zeichnen ja nicht nur, was sie sehen, sondern auch was sie dabei fühlen. Phantasie und Realität vermischen sich.
So ist auf dieser Zeichnung einiges real, der große Mann, das Auto, das Mädchen; anderes wirkt wie verschlüsselt, die Igel, das Tier mit den großen Hörnern. Lauter Rätsel. Und die Lösung dazu, na ja, die hat das Gritli mit ins Grab genommen.
Ich bin Mediziner, kein Totenbeschwörer. Packen Sie Ihre Zeichnung wieder ein. Es ist Unsinn, sich weiter mit ihr zu beschäftigen.«
»Sie wagen es nur nicht.«
»Ich hasse bloße Zeitverschwendung.«
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»Was Sie Zeitverschwendung nennen, ist vielleicht nur eine alte Methode«, erklärte Matthäi. »Sie sind Wissenschaftler und wissen, was eine Arbeitshypothese ist. Betrachten Sie meine Annahme, auf dieser Zeichnung den Mörder gefunden zu haben, als eine solche. Machen Sie meine Fiktion mit und untersuchen wir, was dabei herauskommt.«
Locher schaute den Kommissär einen Augenblick lang nachdenklich an, betrachtete dann die Zeichnung aufs neue.
»Wie sah denn der Hausierer eigentlich aus?« fragte er.
»Unscheinbar.«
»Intelligent?«
»Nicht dumm, aber faul.«
»Ist er nicht einmal wegen eines Sittlichkeitsverbrechens verurteilt worden?«
»Er hatte etwas mit einer Fünfzehnjährigen.«
»Beziehungen zu anderen weiblichen Personen?«
»Nun, als Hausierer. Er wilderte so ziemlich im Lande herum«, antwortete Matthäi.
Locher war nun interessiert. Etwas stimmte nicht.
»Schade, daß dieser Don Juan gestanden und sich erhängt hat«, brummte er, »er käme mir sonst gar nicht als Lustmörder vor. Doch gehen wir nun einmal auf Ihre Hypothese ein. Der Igelriese auf der Zeichnung ist dem Aussehen nach als Lustmörder durchaus denkbar. Er sieht groß und massig aus.
Meistens sind die Menschen, die sich in dieser Weise an Kindern vergehen, primitiv, mehr oder weniger schwachsinnig, Imbecile und Debile, wie wir Ärzte uns ausdrücken, robust, zur Gewalttat neigend und gegenüber den Frauen
Minderwertigkeitskomplexe oder Impotenz.«
Er hielt inne, schien etwas entdeckt zu haben.
»Merkwürdig«, sagte er.
»Was ist denn?«
»Das Datum unter der Zeichnung.«
»Nun?«
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»Mehr als eine Woche vor dem Mord. Gritli Moser müßte seinem Mörder vor der Tat begegnet sein, wenn Ihre Hypothese stimmen sollte, Matthäi.
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