Das Versteck der Anakonda
bemerkt.
»Stopp! Bleib genau hinter uns. Die Bäume sind voller Feuerameisen. Nein, nicht anfass…!«
Die Warnung kam zu spät. Joe hatte schon einen Ast ergriffen, um sich daran den Hügel hochzuziehen. Für die beiden Freunde
sah es so aus, als hätte er mit bloßen Händen einen glühenden Scheit berührt. Auf Joes Gesicht breitete sich pures Entsetzen
aus. Er ließ den Ast los und machte zwei, drei schnelle Schritte. Dabei stolperte er und wäre gestürzt, hätte er nicht im
letzten Moment eine der Lianen zu fassen bekommen, die hier überall in den Bäumen hingen.
»Nicht daran festhalten!«, schrie Juanito.
»Auaaa! Verfl…!«
Der Anakondajäger ließ die Liane so schnell los, wie er sie berührt hatte. Der Griff in eine Stacheldrahtrolle hätte nicht
schmerzhafter sein können. Die rundherum wachsenden scharfen Haken der Kletterpflanze hatten sich in seine rechte Hand gedrückt.
Aus mehreren Stellen tropfte bereits Blut. Das alles bekam Joe aber noch gar nicht richtigmit. Stattdessen purzelte er den Hang hinunter, bis er endlich am Fuß eines großblättrigen Strauches liegen blieb.
Juanito eilte ihm zu Hilfe, stockte aber mitten in der Bewegung.
»O nein, eine Pitalala! Nicht bewegen, Joe! Hast du gehört!»
Joe erstarrte. Das Entsetzen in Juanitos Stimme war auf ihn übergesprungen.
Auch Paul begriff sofort. Irgendetwas, das gefährlicher war als Feuerameisen oder Stacheldrahtlianen, bedrohte Joe. Als er
Juanitos Blick folgte, stieg Panik in ihm auf.
»Eine Lanzenotter. Direkt vor deinem Fuß.«
Joe konnte die Schlange nicht sehen, wagte aber auch nicht, seinen Kopf in ihre Richtung zu drehen.
Paul schielte zu Juanito hinüber. Hinter der Stirn des Indianerjungen schienen sich die Gedanken zu überschlagen. Die Schlange
sah aus, als würde sie jeden Moment zustoßen.
Was dann geschah, war ein echtes Wunder. Paul und Juanito sahen gleichzeitig eine zweite, etwas größere Schlange neben dem
Strauch auftauchen. Ihr eleganter, lackschwarzer Leib schoss aus dem Pflanzengewirr heraus, auf die Lanzenotter zu.
»Eine Chonta«, hauchte Juanito. Paul hätte beinahe laut aufgejauchzt. Die Chonta – die berühmte Giftschlangenjägerin. Sein
Vater hatte ihm von dem Exemplar des Dr. Bücherl am Instituto Butantan in Brasilien erzählt und von ihren siegreichen Kämpfen mit den giftigsten Schlangen des Amazonas.
Nur Joe wusste immer noch nicht, was eigentlich genau um ihn herum geschah. Seine Nerven schienen zum Zerreißen gespannt.
»Die Lanzenotter ist von einer anderen Schlange angegriffen worden. Sie hat sie im Genick gepackt. Roll dich zur Seite. Jetzt!«,
rief ihm Paul leise zu.
Joe zögerte keine Sekunde. Mit einer schnellen Drehung brachte er sich in Sicherheit und wandte sich dann keuchend dem Kampf
der beiden Tiere zu. Die Chonta hatte sich vollständig um die Giftschlange gewunden und deren Kopf noch immer fest zwischen
ihren Kiefern gepackt.
In sicherer Entfernung begann Joe auf einmal am ganzen Leib zu zittern. Sogar seine Zähne klapperten. Zuerst die Feuerameisen,
dann der Griff in die Stachelliane und jetzt die tödliche Bedrohung durchdie Schlange – das war mehr, als er verkraften konnte.
Selbst Juanito schien auf einmal Mitleid mit dem Anakondasucher zu haben.
»Was machen die Ameisenbisse? Sollen wir umkehren?«
Joe nickte. Dann schüttelte er den Kopf. Dann nickte er wieder, brachte aber keinen Ton heraus. Erst der erneut heftig einsetzende
Schmerz ließ ihn den Schock langsam überwinden.
»Wie lange hält das an?«
»Sehr lange. Stunden. Aber es gibt eine Beere, die den Schmerz lindert. Ich kenne eine Stelle, ein Stück weiter in den Wald
rein, wo sie wachsen. Ihr setzt euch oben in den Schatten und wartet auf mich.«
Die beiden Dschungel-Neulinge sahen Juanito hinterher, der auf seinen nackten Füßen erstaunlich schnell vorwärtskam. Schon
bald war er zwischen den dicken Baumstämmen nicht mehr zu sehen. Dann liefen auch sie los.
Im Schatten der Baumriesen war es tatsächlich kühler. Außerdem schien es Paul, als hätte jemand den Dschungel extra für sie
aufgeräumt. Bis auf die Luft- und Brettwurzeln der Bäume, die herabhängenden Schlingen der Lianen und eine dürftigeKrautschicht war der Platz zwischen den großen und kleinen Stämmen erstaunlich gut begehbar.
Nach ungefähr hundert Metern ließen sie sich am Fuß eines der mächtigsten Stämme nieder – nachdem sie den Boden zuvor gründlich
nach Ameisen, Skorpionen und
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