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Das Versteck

Das Versteck

Titel: Das Versteck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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kniehohen Schneeverwehungen und achteten darauf, daß sie nicht umkippte.
    Sie tauchte ins Licht der Rettungsfahrzeuge ein. Dann hörte sie die hektischen Stimmen der Nothelfer und die Geräusche des Polizeifunks. Als ihr schließlich auch der Abgasgestank in die Nase stieg, wußte sie, daß sie am Leben bleiben würde.
    Von einer geglückten Flucht nur Sekunden entfernt, dachte sie.
    Trotz Erschöpfung, Benommenheit und Deliriums war Lindsey noch soweit bei Verstand, daß dieser Gedanke – oder vielmehr das dahinter verborgene unterbewußte Verlangen – sie beunruhigte. Nur Sekunden von einer geglückten Flucht entfernt? Das, wovon sie nur Sekunden getrennt hatten, war einzig und allein der Tod. War sie, auch fast fünf Jahre nachdem sie Jimmy verloren hatte, noch immer so deprimiert, daß sie den eigenen Tod als akzeptablen Ausweg empfand, geradezu als Erlösung?
    Warum habe ich dann im Fluß nicht einfach aufgegeben? fragte sie sich. Warum habe ich weitergekämpft?
    Hatch natürlich. Hatch hatte sie gebraucht. Sie wäre bereit gewesen, diese Welt zu verlassen, in der Hoffnung, eine bessere zu betreten. Aber sie hatte diese Entscheidung nicht für Hatch treffen können, und auf ihr eigenes Leben zu verzichten hätte unter den gegebenen Umständen nun einmal bedeutet, auch das seinige zu opfern.
    Mit einem Ruck wurde die Bahre über den Rand der Schlucht gezogen und auf dem Highway neben einem Notarztwagen abgestellt. Roter Schnee wirbelte ihr ins Gesicht.
    Ein Arzt mit wettergegerbtem Gesicht und schönen blauen Augen beugte sich über sie. »Alles wird wieder gut werden.«
    »Ich wollte nicht sterben«, murmelte sie.
    Eigentlich sprach sie gar nicht mit dem Mann, sondern hielt Zwiesprache mit sich selbst und versuchte zu leugnen, daß ihre Verzweiflung über den Verlust ihres Sohnes zu einer chronischen emotionalen Infektion geführt hatte, die in ihr den Wunsch weckte, sich im Tode mit ihm zu vereinen. Das Wort »selbstmordgefährdet« paßte nicht zu dem Bild, das sie von sich selbst hatte, und sie war entsetzt über die Erkenntnis, daß derartige Impulse ihr offenbar doch nicht fremd waren.
    Von einer geglückten Flucht nur Sekunden entfernt …
    »Wollte ich sterben?« fragte sie.
    »Sie werden nicht sterben«, beruhigte sie der Arzt, während er zusammen mit einem anderen Mann die Seile von den Griffen der Bahre löste, um sie in den Notarztwagen zu heben. »Das Schlimmste ist jetzt vorbei. Das Schlimmste liegt hinter Ihnen.«

Zweites Kapitel
1
    Ein halbes Dutzend Streifen- und Rettungswagen versperrte zwei Fahrspuren des Highways. Der Verkehr in beiden Fahrtrichtungen mußte sich auf die dritte Spur beschränken; uniformierte Polizisten sorgten für einen reibungslosen Ablauf. Lindsey bemerkte, daß die Insassen eines Jeep Wagoneer sie neugierig angafften, aber schon im nächsten Augenblick verschwanden sie hinter Schneeflocken und dichten Schwaden aus kristallisierten Abgasen.
    Der Rettungswagen konnte zwei Patienten aufnehmen. Lindsey wurde auf eine Trage gelegt, die mit zwei elastischen Clips an der linken Wand befestigt war, damit sie während der Fahrt nicht wegrollen konnte. Hatch wurde auf eine identische Trage an der rechten Wand gebettet.
    Zwei Notärzte stiegen ein und zogen die breite Tür hinter sich zu. Ihre weißen isolierten Nylonhosen und -jacken verursachten Reibungsgeräusche – eine ganze Serie leiser Pfeiftöne, die in diesem engen Raum elektronisch verstärkt zu werden schienen.
    Mit kurzem Sirenengeheul setzte sich der Wagen in Bewegung. Den Ärzten bereitete es keine Mühe, dabei auf den Beinen zu bleiben. Sie wußten aus langer Erfahrung, wie man es schaffte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    Die Männer mußten sich in dem schmalen Gang zwischen den behelfsmäßigen Betten dicht aneinanderdrängen. Beide wandten ihre Aufmerksamkeit Lindsey zu. Ihre Namen waren auf die Brusttaschen ihrer Jacken gestickt: David O'Malley und Jerry Epstein. Ihre Arbeitsmethode war eine seltsame Mischung aus professioneller Nüchternheit und besorgter Aufmerksamkeit: Untereinander tauschten sie mit emotionslosen Stimmen medizinische Informationen aus, aber mit Lindsey sprachen sie in sanftem, teilnahmsvollem und aufmunterndem Ton.
    Dieses gespaltene Benehmen wirkte auf Lindsey eher alarmierend als beruhigend, aber sie war viel zu schwach und benommen, um ihren Ängsten Ausdruck verleihen zu können. Sie fühlte sich erschreckend matt. Zittrig. Sie mußte an ein surrealistisches Bild mit dem Titel

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