Das Versteck
erklommen. Lindsey ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe langsam über die Betonwand des Schachts an den Eisensprossen der Wartungsleiter entlang nach unten gleiten.
Hatch stand neben ihr und verfolgte gespannt, wie der Lichtkegel nach unten wanderte und auf dem Grund des Schachts, zwei Stockwerke tiefer, ankam. Im Schein der Taschenlampe sahen sie ein paar Sachen herumliegen, eine Kühlbox, eine Anzahl leerer Limonadendosen und eine Plastiktüte mit Abfall. Mitten drin lag eine durchgelegene, schmutzige Matratze.
Auf der Matratze saß Jeremy Nyebern und drückte sich in die Ecke des Schachts. Er hatte Regina auf dem Schoß, preßte sie dicht an seine Brust wie einen Schild. Sie diente als Kugelfang. In der Hand hielt er eine Pistole und feuerte zweimal, als Lindsey ihn entdeckt hatte.
Die erste Kugel traf weder sie noch Hatch, doch die zweite durchschlug ihre Schulter. Der Schuß warf sie gegen die Wand. Als Reaktion auf den Schlag beugte Lindsey sich ungewollt vor, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Schacht, folgte ihrer Taschenlampe, die ihr aus der Hand gefallen war.
Noch während sie fiel, wollte Lindsey nicht glauben, daß es wirklich passierte. Selbst als sie mit ihrer linken Seite unten aufschlug, erschien alles immer noch irreal. Womöglich, weil sie von der Wucht der Kugel noch zu benommen war, um überhaupt Schmerz zu empfinden, und weil sie auf das untere Ende der Matratze fiel, die ihren Sturz abfing.
Die Taschenlampe war auch auf der Matratze gelandet und heil geblieben. Sie beleuchtete ein Stück grauer Mauer.
Wie in Trance und immer noch bemüht, wieder Luft zu bekommen, schob Lindsey langsam die rechte Hand vor und wollte auf Jeremy anlegen. Sie hatte aber keine Pistole mehr. Beim Fallen war sie ihrer Hand entglitten.
Jeremy Nyebern mußte sie während ihres Sturzes mit der Waffe verfolgt haben, denn jetzt blickte sie genau in die Mündung einer Pistole. Der Lauf war unglaublich lang, er reichte genau eine Ewigkeit von der Kimme bis zum Korn.
Hinter der Waffe konnte Lindsey Reginas Gesicht erkennen, das so ausdruckslos war wie ihr Blick leer. Und über dem lieben kleinen Gesicht die abscheuliche Fratze, bleich wie der Tod. Die diesmal nicht hinter dunklen Gläsern verborgenen Augen glitzerten böse und fremd, obwohl sie im Schein der Taschenlampe blinzelten. Während sie seinem Blick standhielt, durchzuckte sie die Erkenntnis, daß sie es mit einem fremdartigen Wesen zu tun hatte, das lediglich vortäuschte, menschlicher Natur zu sein.
Ist ja toll, surreal, dachte sie noch und merkte, daß sie einer Ohnmacht nahe war.
Sie betete innerlich, daß sie umfiel, bevor er abdrückte. Obwohl das eigentlich keine Rolle mehr spielte. Sie befand sich so dicht vor dem Pistolenlauf, daß sie den Schuß nicht mehr hören würde, wenn er ihr das Gesicht wegblies.
Hatchs Verblüffung über das, was er gleich darauf tat, übertraf noch sein Entsetzen über Lindseys Sturz. Als er nämlich sah, wie Jeremy Lindsey mit der Pistole anvisierte, bis sie unten aufschlug, um ihr dann die Waffe dicht vors Gesicht zu halten, warf er seine Browning beiseite. Solange Regina im Weg war, konnte er sowieso nicht genau auf den Kerl zielen. Zudem ahnte er, daß keine Schußwaffe ausreichen würde, dieses Ding, das Jeremy darstellte, gründlich und für immer zu eliminieren. Es blieb ihm keine Zeit, diesem wunderlichen Gedanken nachzuhängen, denn kaum hatte er die Pistole beiseite geworfen, packte er die Kruzifix-Taschenlampe mit der Rechten, und ehe er sich versah, sprang er in den Fahrstuhlschacht.
Danach geschahen merkwürdige Dinge.
Es kam Hatch gar nicht so vor, daß er den Schacht hinunterstürzte, sondern eher, daß er – wie in Zeitlupe – hinabtrudelte und mindestens eine halbe Minute brauchte, bis er unten aufschlug.
Womöglich hatte sich durch den enormen Schrecken bloß sein Zeitempfinden verschoben.
Jeremy sah ihn kommen, nahm ihn ins Visier und feuerte alle acht Schuß auf ihn ab. Hatch glaubte, mindestens drei- oder viermal getroffen worden zu sein, obwohl er keine Verletzungen aufwies. Es schien unmöglich, daß ein Killer auf so beengtem Raum so oft danebenschoß.
Vielleicht war die miserable Schießkunst auf die Panik des Revolverhelden zurückzuführen oder darauf, daß Hatch ein bewegliches Ziel darstellte.
Während er immer noch leicht wie eine Feder hinabschwebte, wurde der sonderbare Kontakt zwischen ihm und Jeremy wiederhergestellt, und er sah sich einen kurzen Augenblick lang
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