Das verwundete Land - Covenant 04
Hamako, »es schmerzt mich, daß wir uns weigern mußten, deine gewichtigsten Fragen zu beantworten. Deshalb ist's mein Wunsch, daß du die Weissagung der Wegwahrer verstehst, ehe du von uns Abschied nimmst. Mag sein, dann wirst du für meine Überzeugung Verständnis haben, daß man der Weisheit der Wegwahrer vertrauen darf. Hegst du dazu die Bereitschaft?«
Covenant wandte sich mit einer Grimasse reumütigen Grinsens an Hamako. »Ihr habt mich durchgebracht, Hamako. Kann sein, daß ich von Natur aus undankbar bin, aber ich weiß nichtsdestoweniger immer noch den Unterschied zwischen Leben und Totsein zu schätzen. Ich will versuchen, alles zu verstehen, was du mir erklärst.« Halb wider Willen machte er jedoch sofort eine Einschränkung. »Falls es nicht zu lange dauert. Wenn ich nicht bald etwas unternehme , werde ich mich demnächst selbst nicht mehr ausstehen können.«
»Dann komm«, sagte Hamako und strebte zur Felskammer hinaus. Covenant zögerte noch, um sich den Saum des T-Shirts in die Hose zu stopfen, dann schloß er sich ihm an. Als er sich duckte, um den Durchlaß zu unterqueren, bemerkte er verdrossen, daß Hohl ihm dichtauf folgte.
Covenant gelangte in einen Gang, mit peinlicher Säuberlichkeit aus dem Fels gehauen, aber so niedrig, daß er beim Gehen den Kopf einziehen mußte. Der Gang war ausgedehnt und in regelmäßigen Abständen durch in die Wände eingelassene, kleine Brandgefäße erhellt, in denen heimelig und ohne Raucherzeugung dunkle Flüssigkeit brannte. Nach einer längeren Strecke verzweigte sich der Gang, verwandelte sich in ein ganzes Tunnelsystem. Mit der Zeit begegneten Hamako und Covenant immer häufiger Wegwahrern. Einige strebten stumm vorüber; mit anderen wechselte Hamako ein paar Worte in ihrer kehligen Sprache; alle jedoch verbeugten sich vor dem Ringträger.
Plötzlich mündete der Tunnel, dessen Verlauf sie folgten, in eine riesenhafte Höhle. Bottiche voller entflammter Flüssigkeit leuchteten sie hell aus. Dem Anschein nach war sie über dreißig Meter hoch und besaß einen etwa dreimal so großen Durchmesser. Mindestens zwei Dutzend Wegwahrer befanden sich in ihrem Innern emsig bei der Arbeit.
Mit einem Schauder der Verblüffung sah Covenant, daß die gesamte Höhle eine Gartenanlage umfaßte. Dichtes Gras bedeckte den Boden. Überall waren Blumenbeete angelegt, gesäumt mit vielen verschiedenen Arten von Sträuchern. Sogar Bäume – Paare von Güldenblatt, Eichen, Pfirsichbäumen, Platanen, Ulmen, Apfelbäumen, Palisander, Fichten und vielen anderen – reckten ihr Geäst zur gewölbten Decke der Höhle empor. Efeu und sonstige Kletterpflanzen wuchsen an den Wänden in die Höhe. Die Wegwahrer betätigten sich als Gärtner. Sie bewegten sich von Beet zu Baum und von Baum zu Beet, grölten einen heiseren Singsang und schwangen kurze Eisenstäbe; dunkle Spritzer eines energetischen Fluids entsprangen dem Metall der Stäbe, nährten Blumen, Sträucher und Ranken wie ein aus Muttererde und Sonnenschein destilliertes Düngergemisch. Der Effekt war unvergleichlich merkwürdig. An der Oberfläche des Landes verdammte das Sonnenübel alles zur Widernatürlichkeit; nichts wuchs dort, ohne gegen die Gesetzmäßigkeiten der eigenen Existenz zu verstoßen, nichts verging, ohne ganz und gar verdorben zu sein. Hier jedoch, wo es kein Sonnenlicht gab, keine frische Luft, keine Insekten zur Bestäubung, keine von alters her fruchtbare Erde, blühte dieser Garten der Wegwahrer in üppiger Schönheit, so natürlich, als wären diese Pflanzen eigens entstanden, um unter einem steinernen Himmel zu gedeihen. Covenant schaute sich in unverhohlenem Staunen um; doch als er eine Frage stellen wollte, bewog Hamako ihn mit einer Geste zum Schweigen und führte ihn in den Garten.
Gemächlich spazierten sie zwischen den Blumen und Bäumen dahin. Der harsche, dumpfe Gesang der Wegwahrer erfüllte die Luft; aber die Kreaturen sprachen weder untereinander noch mit Hamako; sie waren völlig in konzentrierter Vertiefung in ihre Tätigkeit aufgegangen. Und ihre Konzentration vermittelte Covenant einen gewissen Eindruck von der unendlichen Schwierigkeit der Aufgabe, der sie sich gewidmet hatten. Um einen solchen unterirdischen Garten gesund und gepflegt halten zu können, mußten wahre Wunder an Hingabe und Forschung erforderlich gewesen sein.
Doch Hamako hatte ihm noch mehr zu zeigen. Er geleitete Covenant und Hohl zur anderen Seite der Höhle, in ein anderes Netzwerk von Tunneln. Diese verliefen
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