Das vierte Opfer - Roman
direkt vor dem Eingang auf ihn, und ihm war sofort klar, daß sie auf ihn gewartet haben mußte. Im Schutz der Ligusterhecke, die die gesamte Hotelfront entlanglief, wahrscheinlich. Oder hinter einer der Pappeln.
Eine große, etwas sehnige Frau in den Fünfzigern. Das dunkle, geblümte Tuch war lose über den Kopf geworfen und fiel bis auf die hochgezogenen Schultern herab. Für einen Moment glaubte er, sie wäre eine seiner Lehrerinnen aus dem Gymnasium, aber das war nur ein flüchtiger Gedanke und natürlich absurd.
»Hauptkommissar Van Veeteren?«
»Ja.«
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihm aus nächster Nähe direkt in die Augen. Sie fixierte ihn, als wäre sie sehr
kurzsichtig oder als versuchte sie eine Art außergewöhnlichen Kontakt zu ihm herzustellen.
»Ob ich wohl ein paar Minuten mit Ihnen reden könnte?«
»Ja, natürlich«, sagte Van Veeteren. »Worum geht es? Wollen wir reingehen?«
Ist sie verrückt? dachte er.
»Wenn Sie mit mir die Straße entlanggehen könnten... ich bin lieber draußen. Es dauert auch nur fünf Minuten.«
Ihre Stimme klang tief und betrübt. Van Veeteren nickte, und die beiden gingen langsam zum Hafen hinunter. An der Doomsgasse bogen sie nach rechts ab, zwischen die abgelaugten Häusergiebel, und erst als sie in deren dunklen Schatten gekommen waren, berichtete sie ihm von ihrem Problem.
»Es geht um meinen Mann«, erklärte sie. »Er heißt Laurids, und er hat es schon immer etwas mit den Nerven gehabt... es ist nichts Schlimmes, er ist auch nie eingewiesen worden oder so. Ist nur etwas unruhig, wissen Sie. Aber jetzt traut er sich nicht mehr raus...«
Sie machte eine Pause, aber Van Veeteren sagte nichts.
»Er sitzt jetzt schon seit Freitag, seit fast einer Woche, aus Angst vor dem Henker drinnen. Geht nicht zur Arbeit, und jetzt haben sie ihm mitgeteilt, daß er gefeuert wird, wenn das so weitergeht.«
Van Veeteren blieb stehen.
»Was sagen Sie da?«
Sie ließ seinen Arm los. Blieb ebenfalls stehen und schaute zu Boden, als schämte sie sich.
»Ja, und da habe ich mir gedacht, ich gehe zu Ihnen und frage mal, wie die Untersuchungen so laufen... Ich hab ihm das vorgeschlagen, und wahrscheinlich traut er sich wieder raus, wenn ich mit einer Art Versicherung oder einem beruhigenden Bescheid von Ihnen zurückkomme.«
Van Veeteren nickte. Mein Gott! dachte er.
»Sagen Sie Ihrem Mann... wie heißen Sie eigentlich?«
»Christine Reisin. Mein Mann heißt Laurids Reisin.«
»Sagen Sie ihm, daß er ganz beruhigt sein kann«, sagte Van Veeteren. »Er kann ganz beruhigt zur Arbeit gehen. Wir haben alle Hoffnung, daß wir den Mörder in sechs bis acht Tagen gefaßt haben werden.«
Sie hob ihren Blick und sah ihn wieder aus nächster Nähe an.
»Danke, Herr Hauptkommissar«, sagte sie nach einer Weile. »Vielen, vielen Dank. Ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen kann.«
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand in einer der engen Gassen. Van Veeteren blieb stehen und schaute ihr nach.
So einfach ist es, eine Frau zu betrügen, dachte er. Eine Frau, die man nur fünf Minuten gesehen hat.
Die Episode blieb an ihm haften, und als er unter der Dusche stand und versuchte, die Erinnerung daran abzuschrubben, war ihm klar, daß Laurids Reisin wie ein schlechtes Gewissen über ihm hängen würde, solange die Ermittlungen andauerten.
Der Mann, der sich nicht traute, nach draußen zu gehen.
Ein Mensch war dabei, seinen Job zu verlieren... und zweifellos seine Würde gleich mit... nur weil es ihm und den anderen – Münster, Bausen, Kropke und Moerk – nicht gelang, diesen verfluchten Mörder aufzuspüren.
Oder gab es möglicherweise mehrere von dieser Sorte? Warum nicht?
Wieviel angehäufte Angst... Schrecken und Furcht existierten in diesem Augenblick in Kaalbringen? Wenn sich so etwas überhaupt messen ließ ...
Er streckte sich auf seinem Bett aus und starrte an die Decke.
Rechnete.
Sechs Tage seit dem Mord an Maurice Rühme.
Fünfzehn seit Simmel.
Eggers? Zweieinhalb Monate.
Und was hatten sie?
Ja, was? Ein Wirrwarr von Informationen. Einen absoluten Overkill an Informationen über dieses und jenes... und keinerlei Muster.
Nicht den Schatten eines Verdachts und keinerlei Verbindungslinien.
Drei neu hinzugezogene Männer.
Aus Selstadt, aus Aarlach, aus Spanien.
Zwei hatten mit Drogen zu tun gehabt, einer davon hatte damit bereits vor vielen Jahren aufgehört. Die Waffe war klar. Der Mörder hatte sie ihnen selbst
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