Das vierte Opfer - Roman
der feste Anker in seinem Dasein.«
»Ist vor ’ner Viertelstunde hochgegangen, wollte ins Bett«, sagte Münster. »War wohl etwas sauer, daß der Hauptkommissar die Insidergespräche eingestellt hat, nehme ich an.«
»Ja, Scheiße«, sagte Van Veeteren. »Nun ja, wenn er sich bis Montag geduldet, wird er um so mehr zu berichten haben.«
O ja, dachte Münster.
37
Der Sonntag vor dem entscheidenden Montag bot einen klaren Morgen mit sanfter Brise aus Südwest. Van Veeteren und Münster beschlossen, ohne ein Wort darüber wechseln zu müssen, zu Fuß zur Polizeiwache zu gehen.
Es war ganz einfach so ein Tag dafür, und der Kommissar konnte deutlich das Zögern und den Widerstand in seinen eigenen und in den Schritten des Hauptkommissars spüren. In dem Moment, als sie aus der Weivers Gasse hinaustraten, begannen die Glocken der Bungeskirche zum ersten Gottesdienst zu läuten. Van Veeteren blieb stehen. Er schaute zu dem dunklen Portal hinauf und murmelte etwas Unverständliches. Münster betrachtete die Verzierungen. Die hanseatischen Schmuckgiebel. Die mythologische Bronzeskulptur mit dem leise rinnenden Wasser. Den schräg abfallenden Markt, der friedlich unter dem spröden Klang dalag ... vollkommen verlassen, abgesehen von ein paar Tauben, die herumspazierten und zwischen den Kopfsteinen nach Futter pickten. Sowie einem dunkelhäutigen Straßenfeger, der hinten beim Buchladen stand und Verdi pfiff.
Münster schob die Hände in die Taschen. Klemmte sich die
dünne Aktentasche unter den Arm, und während sie den unebenen Platz überquerten, beschlich ihn ein Gefühl der Absurdität dieses Daseins. Des unzweifelhaft in ihm enthaltenen Wahnsinns. Wie absurd erschienen doch ihr Auftrag und ihr Vorhaben in dieser schlummernden kleinen Küstenstadt an einem Sonntagmorgen wie diesem? »Wie bleich sieht doch der Mörder im Tageslicht aus?« Wer hatte das noch mal gesagt? Und wie unmöglich war es, sich ernsthaft vorzustellen, daß sie wieder einmal, Gott weiß, zum wievielten Mal, auf dem Weg waren, um sich um den ovalen Tisch in dem pestgelben Konferenzzimmer der Polizeiwache zu quetschen ... sich hinzusetzen, die Hemdsärmel hochzukrempeln und von neuem damit anzufangen, die Frage zu erörtern, wer dieser Verrückte wohl sein mochte.
Der in dieser Idylle herumging und seinen Mitmenschen den Kopf abschlug.
Er, dessentwegen eine ganze Stadt in Angst und Schrecken lebte und dessen Tun und Lassen der allgemeine und fast einzige Gesprächsstoff in den letzten Wochen gewesen war.
Er schließlich, dessen Identität herauszubekommen die verdammte Pflicht und Schuldigkeit des Hauptkommissars und seiner Kollegen war, damit das alles hier endlich wieder seinen gewohnten Gang gehen konnte ...
Und was, verdammt noch mal, würden die Leute morgen sagen?
Ja, absurd ist das richtige Wort, dachte Münster und blinzelte in die Sonne über dem Kupferdach der Polizeiwache. Oder vielleicht bizarr, um Beate Moerks Ausdruck zu benutzen.
War es tatsächlich möglich, daß sie in diesem Augenblick irgendwo in der Stadt oder ihrer Umgebung mit einem abgeschlagenen Kopf lag? Ein Stück langsam verrottender Körper, der nur darauf wartete, entdeckt zu werden? War es möglich, sich das vorzustellen? Sie, die er fast...
Er schluckte und trat nach einer leeren Zigarettenschachtel, die offenbar dem Straßenkehrer entgangen war.
Und heute nachmittag sollte er Synn und die Kinder wiedersehen.
Und wie kam es – das mußte er sich schließlich auch fragen –, daß sie sich zu dieser Reise ohne die geringste Vorwarnung entschlossen hatte? War es wirklich nur eine plötzliche Eingebung gewesen, wie sie es am Telefon genannt hatte – gerade zu diesem Zeitpunkt?
Um Viertel nach acht am Freitagabend.
Das mußte ja fast auf die Minute genau der Zeitpunkt gewesen sein, als ...
Während ihrer langen Zusammenarbeit im Polizeidienst war es zwei- oder dreimal vorgekommen, daß der Hauptkommissar mit ihm über die Muster im Dasein gesprochen hatte. Über verborgene Zusammenhänge, Choreographien und Erscheinungen... Determinanten, was es auch immer war, aber das hier übertraf das meiste um Längen, oder?
Ihn überlief ein Schauder, und er hielt die Tür offen für das, was die Zukunft ihm bringen mochte.
»Wir haben ihn«, sagte Bausen.
»Wen?« fragte Van Veeteren gähnend.
»Podworsky natürlich«, sagte Kropke. »Er sitzt unten in der Zelle. Wir haben ihn vor einer halben Stunde unten im Hafen geschnappt.«
»Im
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