Das vierte Protokoll
hatte, als er den KGB leitete.
Philby las den Brief noch einmal und schob ihn dann weg. Der Stil des alten Herrn war immer noch der gleiche, dachte er. Kurz, sachlich, klar und präzise, ohne Höflichkeitsfloskeln, von einer Bestimmtheit, die jeden Widerspruch ausschloß. Selbst die Anspielung auf Philbys Geburtstag war kurz und sollte nur zeigen, daß der Generalsekretär sich die Personalakte und einiges mehr hatte kommen lassen.
Und doch war Philby beeindruckt. Ein persönliches Handschreiben vom eisigsten und distanziertesten aller Menschen war eine ungewöhnliche Ehre, die eine Menge Leute außer Fassung gebracht hätte. Vor Jahren war das noch ganz anders gewesen. Als der gegenwärtige Sowjetführer die Leitung des KGB übernahm, war Philby bereits Jahre in Moskau und galt als eine Art Star. Er hielt Vorträge über westliche Nachrichtendienste im allgemeinen und über den britischen Secret Intelligence Service im besonderen.
Wie alle Parteimenschen, die Fachleute einer anderen Disziplin zu befehligen haben, berief der neue Leiter seine getreuen Vasallen auf Schlüsselposten. Wenn er auch als einer der fünf Stars respektiert und bewundert wurde, so begriff Philby doch, daß in dieser konspiratorischsten aller Gesellschaften ein hochgestellter Gönner von Nutzen sein konnte. Der KGB-Chef, der ungleich intelligenter und gebildeter war als sein Vorgänger Semitschastnij, hatte für alles, was England betraf, eine Neugierde gezeigt, die über bloßes Interesse hinaus fast bis zur Faszination ging.
Er hatte damals Philby oft um eine Deutung oder Analyse von Ereignissen in England gebeten, von wahrscheinlichen Reaktionen seiner führenden Politiker, und Philby war glücklich gewesen, ihm einen Gefallen tun zu können. Es war, als wolle der KGB-Chef die Berichte, die von seinen hauseigenen England-Experten oder von seiner alten Dienststelle, der Internationalen Abteilung des Zentralkomitees unter Boris Ponomarew, kamen, anhand eines Gegengutachtens überprüfen. Manchmal hatte er sich dann Philbys Ansichten zu eigen gemacht.
Es war schon fünf Jahre her, daß Philby den Zaren aller Reußen von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte. Das war im Mai 1982 gewesen bei einem Empfang anläßlich der Rückkehr des KGB-Chefs zum Zentralkomitee, angeblich als Sekretär, in Wahrheit aber zur Sicherung seines eigenen Aufstiegs nach Breschnews bevorstehendem Tod. Und jetzt suchte er wieder Philbys Rat.
Die Rückkehr Eritas und der Jungen, die erhitzt waren vom Schlittschuhlaufen und lärmten wie immer, riß Philby aus seinen Gedanken. 1975, lange nach Melinda Macleans Weggang, als die Oberen beim KGB befanden, daß seine ewige Sauferei und Herumhurerei ihren Reiz verloren habe (zumindest für den Apparat), war Erita beordert worden, zu ihm zu ziehen. Sie war damals ein KGB-Mädchen, Jüdin gegen alle Regel, vierunddreißig Jahre alt, dunkelhaarig und ausgeglichen. Sie heirateten noch im selben Jahr.
Nach der Hochzeit hatte sein beträchtlicher persönlicher Charme alles überspielt. Sie hatte sich wirklich in ihn verliebt und sich geweigert, dem KGB noch irgendwelche Berichte über ihren Mann zu liefern. Ihr Führungsoffizier hatte die Achseln gezuckt, höheren Orts Meldung erstattet und war beschieden worden, die Sache fallenzulassen. Die Jungen waren zwei und drei Jahre später gekommen.
»Was Wichtiges, Kim?« fragte Erita, als er aufstand und den Brief in die Tasche steckte. Er schüttelte den Kopf. Sie zog den Jungen die dicken, gesteppten Jacken aus.
»Nichts, Liebes«, sagte er.
Doch sie sah ihm an, daß ihn etwas beschäftigte. Wohlweislich drang sie nicht weiter in ihn, sondern ging zu ihm und küßte ihn auf die Wange.
»Bitte, trink nicht zu viel heute abend bei den Blakes.«
»Ich werd's versuchen«, sagte er lächelnd.
Er war jedoch fest entschlossen, sich ein letztes Besäufnis zu leisten. Als lebenslanger Alkoholiker, der, wenn er auf einer Party einmal zu trinken anfing, bis zur Bewußtlosigkeit weitermachte, hatte er die Warnungen von gut hundert Ärzten in den Wind geschlagen. Sie hatten ihn gezwungen, das Zigarettenrauchen aufzugeben, und das war schlimm genug gewesen. Aber nicht den Alkohol; er konnte damit aufhören, wenn er ernsthaft wollte, und er wußte, daß er nach dieser Silvesterparty für eine Weile damit Schluß machen mußte.
Er rief sich die Bemerkung, die er bei Kryutschow gemacht hatte, und die Überlegungen, die sie ausgelöst hatten, ins Gedächtnis zurück. Er wußte, was im
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