Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Hexentochter.
Er beachtete sie gar nicht, sondern setzte sich auf und starrte ihre Großmutter an. »Werden wir unseren Kampf gegen Camora also verlieren?«
Die Alte sah ihn prüfend an und zog die Augenbrauen hoch. »Hast du das gesehen?«
Zu aufgewühlt, um etwas sagen zu können, fuhr er sich mit beiden Händen übers Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Du hast gesehen, was geschieht, wenn ihr siegreich seid. Du hast gesehen, was geschieht, wenn euer so lang erwarteter König sein Erbe erfüllt.«
Er fuhr hoch und brachte mühsam hervor: »Aber, wie kann das sein? Die Prophezeiung … Camora ist doch das Böse … die Quelle …« Er brach ab und fuhr sich erneut über das Gesicht.
Marlena lachte geringschätzig auf. »Camora ist ein machtbesessener, blutrünstiger Thronräuber, nicht mehr und nicht weniger. Maluch ist ein gieriger, böser und sehr starker Hexenmeister, nicht mehr und nicht weniger. Zumindest aber sind es beide sterbliche Menschen, … doch, wer oder was der da’Kandar-Erbe ist, das wissen wir nicht.«
Derea starrte sie nur hoffnungslos überfordert an, und sie fuhr fort: »Ich versuche, dir zu erklären, was ich meine. Als der kleine Prinz geboren wurde, war seine Mutter längst über das Alter hinaus, um noch Kinder bekommen zu können. Ich weiß das genau, weil ich damals noch Kräuterfrau bei Königin Nemedala war. Ich habe all ihre Kinder mit zur Welt gebracht und war dann auch bei der völlig unerwarteten Geburt des Jüngsten zugegen. Es war die seltsamste Niederkunft, der ich jemals beigewohnt habe. Nicht einen einzigen Schrei gab der Knabe von sich, und die Königin weigerte sich, auch nur einen Blick auf das Kind zu werfen. Auch der König wollte seinen Nachkommen nicht sehen, wollte ihn nicht einmal wie üblich seinem Hofstaat zeigen, dabei war es ein Sohn, noch dazu am Tag der Schicksalsgöttin geboren. So gute Vorzeichen, und der König weinte und bat die Götter um Vergebung. Ich habe selten so liebevolle Eltern kennengelernt, wie diese beiden, aber ihren Jüngsten sperrten sie im entfernten Ostturm weg und suchten ihn dort nie auf.«
Sie seufzte tief auf in Erinnerung. »Er war so hübsch mit seinen hellblonden Locken und den großen, strahlenden Augen. Er war so brav und lernte so schnell, aber nur zu öffentlichen Anlässen, bei denen es sich nicht vermeiden ließ, wurde er zur Familie geholt. So zärtlich Nemedala zu ihren größeren Kindern war, so abweisend war sie zu Rhonan. Sie zuckte schon zusammen, wenn er sie auch nur berührte. Zufällig wurde ich eines Abends Zeugin, wie der König seiner Gattin vorschlug, endlich eine Götterfeier abzuhalten, um den Prinzen, wie es schließlich Brauch war, dem Segen und dem Schutz der Götter zu empfehlen. Nemedala war entsetzt und erklärte, dass die Götter allein dieses Ansinnen nur als Frevel ansehen könnten, der König solle nicht vergessen, wer der Knabe wirklich war. Ich wurde natürlich neugierig und unterzog den Kleinen einigen Prüfungen. Was ich sah, veranlasste mich, dem da’Kandar-Reich umgehend den Rücken zu kehren. Er ist nicht von dieser Welt, und er wird Tod und Schrecken verbreiten. Seine Lebenslinie war rot, rot von Blut. Er wird die Menschen vernichten, weil das seine wahre Bestimmung ist. Lasst ihn gewähren, und die Reiche werden in ewiger Finsternis versinken.«
Der Hauptmann hatte ihr mit wachsendem Entsetzen und Unglauben zugehört. Lange Zeit war es still. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kenne Rhonan. Er ist nicht böse. Niemals!«, erklärte er mit fester Stimme.
»Wir sind, was wir sind, mein Junge«, entgegnete Marlena ruhig. »Juna wäre vielleicht lieber eine andere, aber sie ist eine Hexe, nur weil sie meine Enkelin ist. Euer Großkönig wäre vielleicht gern ein anderer, aber er ist der Erbe des Bösen.«
Immer noch fegte Sturm um die Hütte, aber Derea bemerkte ihn nicht einmal. Er schüttelte erneut den Kopf. »Das glaube ich nicht. Das glaube ich niemals.«
»Du bist Ayalas Sohn. Du willst es nicht sein, weil Morwena deinem Herzen nähersteht, aber du bist deiner leiblichen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, und du hast magische Fähigkeiten von ihr geerbt. Glaubst du vielleicht, du könntest dagegen etwas unternehmen, wenn du es wolltest? Prinz Rhonan hat nicht darum gebeten, aber er ist, was er ist. Das ist keine Frage von Schuld oder Willen, das ist Schicksal. Ich hatte gehofft, dass die Flammen da’Kandars das Ende des verfluchten Knaben bedeutet hätten, aber selbst der
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