Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
einem Wesen gemacht, das sich plötzlich nach Liebe und Frieden sehnt. Ehrenhaftigkeit und Tugend öden mich an. Ich …«
»Und wenn ich Euch bitten würde, mit mir zu kommen«, unterbrach er sie und nahm ihre Hände in seine. »Wenn ich Euch bitten würde, meine Frau zu werden?«
Die Worte waren ohne seinen Willen und ohne jede Überlegung über seine Lippen gekommen, aber er war froh darüber, sie ausgesprochen zu haben, denn sie entsprachen der Wahrheit.
Einen Augenblick glaubte er, Überraschung in ihrem Blick zu sehen, doch dann entwandt sie ihm die Hände, und ihr Blick wurde spöttisch. »Wisst Ihr was, mein edler Hauptmann? Ihr treibt Eure Dankbarkeit etwas sehr weit. Hier bei uns einfachen Menschen hätte ein schlichtes Dankeschön gereicht.«
»Dankeschön!« Er trat einen Schritt auf sie zu. Sie wich nicht zurück, aber ihr ganzer Körper versteifte sich, schien in Abwehrhaltung, als er fortfuhr: »Kommt mit mir, Juna. Ich liebe Euch, und ich weiß, dass ich Euch auch nicht gleichgültig bin.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Nein, gleichgültig seid Ihr mir nicht. Ich mag Eure Augen, Euer Gesicht und Euren Körper. Wenn Ihr mich küssen wollt, sage ich nicht nein, wenn Ihr mehr wollt, bin ich ausgesprochen gern zu Diensten, aber mich mit Euch verbinden …« Wild lachte sie auf. »Nie im Leben! Eure Liebenswürdigkeit und Eure Ehrenhaftigkeit langweilen mich zu Tode, verursachen mir Brechreiz. Außerdem würde mir ein Mann auf Dauer ohnehin nicht genügen. Stellt Euch vor, Ihr würdet mich als Eure Gattin mit nach Mar’Elch nehmen: Nicht nur, dass die edle Königin Morwena und Euer Bruder sich mit Schaudern von Euch abwenden würden, Ihr müsstet auch noch damit leben, dass Ihr immer wieder fremde Männer in meinem Bett fändet. Ihr müsstet Euch damit abfinden, dass ich Ehen zerstöre, dass ich lüge, betrüge, stehle und Unruhe stifte. Ich mag das nämlich sehr, und ich benötige sehr viel Unterhaltung und Abwechslung. Würdet Ihr damit leben können, Hauptmann Derea?«
Sein Blick blieb weiterhin ernst. »Meine Mutter und mein Bruder würden Euch herzlich willkommen heißen, und ich glaube Euch nicht. Ihr seid nicht die kaltherzige Hexe, die Ihr immer vorgebt zu sein. Ich habe in den letzten Tagen eine ganz andere Juna kennengelernt. Warum verstellt Ihr Euch immer? Warum gebt Ihr vor, kein Herz zu haben, wenn es doch eigentlich so groß ist. Habt Ihr Angst, Ihr könntet Euch vielleicht wirklich einmal verlieben?«
Jetzt klang ihr Lachen sehr geringschätzig. »Ich war schon verliebt, unzählige Male sogar. Es war jedes Mal so unglaublich schön, so prickelnd, aber eine längere Beziehung … Ich fürchte kaum etwas mehr als die Langeweile, die dies unweigerlich mit sich brächte. Gerade ein Tugendwächter wie Ihr würde versuchen, einen guten Menschen aus mir zu machen, und allein der Gedanke daran, tatsächlich einer zu werden, verursacht mir schon Übelkeit.«
Sie warf mit Schwung ihre Haare zurück. »Wenn Ihr reisefertig seid, solltet Ihr Euch auf den Weg machen. Dann müsstet Ihr nicht erneut in der Wildnis übernachten. Außerdem habe ich gleich noch eine Verabredung mit einem großen, starken Fischer. Nachdem ich Euch immer nur begucken durfte, wird das eine angenehme Abwechslung sein, auch wenn er außer Muskeln wenig zu bieten hat. Aber zumindest will er sicher nicht mit mir reden, und er will auch keinen guten Menschen aus mir machen. Nach diesen langen, öden Tagen mit Euch sehne ich mich nach Spaß, wie ihn wohl nur schlechte Menschen empfinden können. Oder möchtet Ihr vielleicht noch kurz mit mir in den Stall kommen? Ich könnte Euch sogar etwas von Eurer sterbenslangweiligen Liebe vorgaukeln, wenn Euch das anregen sollte. Ich beherrsche alle Gangarten – von der tugendhaften Jungfrau bis hin zum verlotterten Talermädchen. Sagt mir einfach, wie Ihr es gern hättet!«
Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu, und er schüttelte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, den Kopf. »Warum tut Ihr alles, um mich wegzustoßen? Ich liebe Euch, Juna. Ich will Euch gar nicht ändern, ich liebe Euch so, wie Ihr seid, aber nicht so, wie Ihr gern vorgebt, zu sein. Doch das ist Euch offensichtlich nicht genug.«
Er wandte sich ab, ging zum Pferd, schwang sich in den Sattel und blickte noch einmal auf sie herunter. »Habt Dank für alles, Hexentochter. Mögen die Götter Euch behüten! Wenn Ihr einmal glaubt, dass Ihr ohne Eure Lebenslüge leben könnt … Ihr wisst, wo Ihr mich
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