Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
sahen ebenfalls mit ernsten Mienen dem nicht enden wollenden Glückstaumel zu. Um große Lagerfeuer herum sangen und tanzten Krieger beider Lager und Kalla in laut grölender, aber friedlicher Eintracht. Gebrautes, Wein und Branntwein flossen in Strömen. Doch selbst der Duft von gebratenem Fleisch ließ die Brüder, die seit dem Sonnenaufgang nichts gegessen hatten, kalt.
Immer wieder wanderten ihre Blicke zu den gewaltigen Schattenkriegern, die mit leeren Gesichtern etwas abseits saßen und offensichtlich überhaupt nicht begriffen, was um sie herum geschah. Sie aßen und tranken, was man ihnen vorsetzte und verharrten im Übrigen völlig regungslos. Kurz zuvor noch schreckliche und erbarmungslose Feinde, gab es jetzt wohl kaum einen Menschen, in dem sich nicht das Mitleid regte. Der Hexenmeister schien ihnen tatsächlich alles genommen zu haben, was sie einmal von Tieren unterschieden hatte.
»Bei allen Göttern! Sieh sie dir nur an! Das waren einmal kleine Jungen wie wir. Wir hatten Glück und sind zu Morwena, unserer Mutter, gekommen, und sie … Er hätte einen viel schlimmeren Tod verdient gehabt«, erklärte Derea unvermittelt. »Diese Bestie ist viel zu gut davongekommen.«
Sein Bruder nickte nur, schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein.
»Denkst du an Hylia?«, fragte der Hauptmann.
»Ich habe gerade mit ihr gesprochen. Caitlin geht es sehr schlecht, sie hat Krämpfe, und ihr Fieber steigt. Hylia befürchtet, dass sie ihr Kind verlieren wird.«
Er sah seinen Bruder verzweifelt an. »Oder dass sie sogar stirbt, wenn sie nicht sehr bald Hilfe bekommen. Glaubst du, dass die Götter so ungerecht sein können? Warum strafen sie die am meisten, die versuchen, Gutes zu tun?«
»Das tun sie doch gar nicht, nur bei guten Menschen fällt es uns immer auf. Schlechte Menschen erhalten unserer Meinung nach ihre verdiente Strafe, und wir denken einfach nicht weiter drüber nach.«
»Du bist wieder einmal sehr geistreich, aber jetzt mal im Ernst: Du kennst Rhonan besser als ich. Glaubst du, ich muss es ihm sagen? Ich meine, es würde doch keinem weiterhelfen. Nur, weil es ihr immer schlechter geht, kommen wir trotzdem nicht schneller auf die Insel.«
Derea überlegte eine ganze Zeit. »Nein, ich denke, das solltest du nicht. Ruhm, Ehre, der Thron, die Reiche – nichts scheint ihm auch nur das Geringste zu bedeuten. Mit da’Kandar kann er eigentlich nur Schmerz verbinden, aber Caitlin bedeutet ihm alles. Hast du seinen Blick vorhin gesehen? So hat er nur einmal geguckt, nämlich als er darüber nachgedacht hat, ob er unseren feinen Vater, den General, am Leben lassen kann. Er dreht glatt durch, wenn du ihm das jetzt auch noch erzählst. Sag ihm besser nichts!«
Eine Weile schwiegen beide wieder. Ein betrunkener Flammenreiter bot ihnen Branntwein an, aber beide lehnten ab.
»Geht es Hylia denn wenigstens halbwegs gut?«, fragte Derea irgendwann.
Canon seufzte tief und rieb sich mit fahrigen Händen die Oberschenkel. »Ich weiß es nicht. Sie spricht nur von Caitlin und behauptet immer, ihr ginge es gut. Ich glaube ihr aber längst nicht mehr, denn ihre Gespräche werden immer kürzer. Ihr fehlt sogar dafür schon die Kraft, und das zerreißt mich fast.«
Derea legte seinem Bruder den Arm um die Schultern. »Frauen sind viel stärker, als wir denken, nicht unbedingt in Bezug auf ihre Körperkraft, aber in Bezug auf ihren Willen und ihre Zähigkeit. Hylia ist eine mutige und starke Frau, die nie aufgeben würde. Sie wird es schaffen.«
Canon wollte gerade etwas erwidern, als ein Tumult ihn stutzen ließ. »Was ist denn da los? Etwas zu viel Gebrautes?«
Beide sprangen auf und rannten auf eine Gruppe Gardisten zu, die sich gerade mit Hordenkriegern prügelte.
»Sofort aufhören!«, brüllte Canon schon von weitem. »Oder ich lass euch alle in Ketten legen. Die Kampfhandlungen sind eingestellt.«
Die Männer ließen umgehend voneinander ab.
»Was ist hier los?«, wollte er wissen und baute sich vor einem Gardisten auf.
»Ehemalige Truppenführer Camoras!«, erklärte der und wischte sich Blut von der Lippe. »Wollten eine Hinrichtung vornehmen.«
Derea sah verständnislos zu den Hordenkriegern. »Eine Hinrichtung?«
»So verfahren wir mit Kriegsverbrechern und Mördern«, erklärte einer von ihnen. »Das dürfte doch wohl auch bei Euch üblich sein.«
»Nur nicht ohne Verfahren«, entgegnete Canon streng. »Liefert uns den Schuldigen aus, und wir werden die Angelegenheit morgen prüfen. Ich werdet
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