Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
da’Kandar, der einzige Nachkomme des Geschlechts. Der König war nun einmal dein Vater. Gleichgültig, wer deine Mutter war, du bist sein rechtmäßiger Erbe. Das wärst du selbst dann, wenn eine Magd dich geboren hätte, und deine Mutter war immerhin die erste Großkönigin. Niemals dürfte es einen würdigeren König gegeben haben. Also steh nicht wie angewachsen herum! So wörtlich war das mit dem Bedienen nicht gemeint.«
Erstaunt betrachtete sie die von längst getrocknetem Blut verfärbten Verbände, die er immer noch trug, und es wurde ihr erst jetzt bewusst, dass die Schlacht gegen Camora noch gar nicht so lange her war, obwohl ihr die letzten Tage wie eine Ewigkeit erschienen waren.
»So wie die Binden aussehen, löse ich sie besser erst, wenn sie etwas eingeweicht sind«, fügte sie hinzu. »Komm, zieh dich aus!«
Er machte überhaupt keine Anstalten, sich zu entkleiden, sondern stand wie erstarrt da. »Ich will nicht hier sein, ich kann nicht hier sein. Können wir nicht doch irgendwo anders hingehen, Caitlin? Ich kann …«
»Wir könnten schon, aber wir tun es nicht«, unterbrach sie ihn mit Bestimmtheit. »Wir haben jetzt all unsere lebenden Feinde besiegt, und genau hier werden wir gemeinsam auch deine verfluchten Geister besiegen. Du wirst ihnen nicht länger davonlaufen. Hier und jetzt beginnt unsere Zukunft. Wir gehören hierher, und wir werden diesen riesigen Steinhaufen mit Liebe und Glück füllen. Und nun zieh dich endlich aus und steig in die Wanne, bevor das Wasser kalt wird!«
»Ich will nicht, ich …«
»Oh, Liebster«, unterbrach sie ihn erneut. »Du bist doch völlig verkrampft. So steifbeinig wie heute habe ich dich noch nie gesehen. Siehst du dort die Wanne mit dem herrlich warmen Wasser und die Liege mit den bereitstehenden Ölen? Alles nur für dein Wohlbefinden. Ich habe sogar Juna um ihre Kräutermischung zur Entspannung der Muskeln gebeten, mit der sie mich nach dem Wasserverlies behandelt hat. Du wirst sehen: Die wirkt wahre Wunder. Wir haben uns alle solche Mühe gegeben, und du stehst jetzt hier und sagst: Ich will nicht.«
Befriedigt nahm sie zur Kenntnis, dass er sich auf einen Schemel setzte und, wenn auch zögerlich, damit begann, sich die Stiefel auszuziehen.
Liebevoll lächelnd fuhr sie fort. »Während ich dich gleich verwöhne, wirst du mir erzählen, was dich hier bedrückt.«
Er hielt inne und starrte sie mit funkelnden Augen an. »Was mich bedrückt?«, stieß er wild aus. »Ich krieg kaum Luft, ich kann nicht atmen in dieser Burg. Nicht einmal in Ligurius’ Kerker habe ich mich so unwohl gefühlt. Diese Festung ist schlimmer als jedes Gefängnis für mich. Gleichgültig, wohin ich auch blicke, ich sehe nur Ablehnung und Schmerz und Tod. Ich sehe …«
Caitlin packte seine Schultern und schüttelte ihn heftig. »Du weißt, warum deine Familie dich ablehnte. Sie hätte es niemals tun dürfen, weil du nur ein kleiner, unschuldiger Junge warst, der nichts für seine seltsame Herkunft konnte, aber sie hat es trotzdem getan. Warum? … Ich habe keine Ahnung. Lass diese herzlose Bande endlich ruhen! Jetzt ist die Zeit deiner neuen Familie angebrochen, und ich meine nicht nur mich und unser Kind damit. Gideon liebt dich wie einen Sohn, und da draußen warten auch noch Morwena, die sich als deine Tante sieht, Derea und Canon, die deine Schwäger sind, und Hylia, die bald deine Schwägerin wird. Marga wird über Darius auch bald irgendwie mit uns verwandt sein. Und Juna über Derea auch, wenn ich nicht völlig falsch liege. Sie sind deine neue Familie, und sie alle lieben dich. Und da draußen sind noch viele, viele Menschen, die dich ebenfalls lieben, weil du ihnen etwas gebracht hast, das weder dein Vater noch deine Geschwister ihnen jemals hätten bringen können, nämlich Frieden. Wenn irgendjemand das Recht hat, hier zu leben, dann du! Wir werden uns nicht von deinen Geistern vertreiben lassen. Du wirst dich in diese Wanne setzen, die Augen schließen und mir erzählen, was du siehst. Alles verliert seine Bedeutung, wenn man nur darüber spricht.«
»Bitte nicht, Caitlin! Vielleicht später, wenn …«
»Nichts da! Zieh dich endlich aus!« Ihr brach fast das Herz, als sie seine bebenden Hände sah. Wie konnte es sein, dass ihr Mann mehr Angst vor den Toten hatte als vor seinen gefährlichen Feinden? Fast war sie versucht, ihm nachzugeben und einen anderen Schlafplatz zu suchen, aber so würde er seine Vergangenheit nie hinter sich lassen. Sie blieb daher
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