Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
»Ich war zu lang allein. Ich sehne mich nach dir. Wohin wir gehen …? Was glaubst du wohl? In unser Schlafgemach. Wohin denn sonst?«
Ihre Berührungen beruhigten ihn diesmal nicht. Er nahm sie kaum wahr. »In die königlichen Gemächer?« Seine Stimme klang gehetzt.
»Morwena hat sie wunderbar herrichten lassen. Sie …«
»Können wir nicht irgendwo anders schlafen, Caitlin? Bitte!«
Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, konnte nur als mütterlich bezeichnet werden. »Rhonan, du bist der König. Dir gehört diese Burg. Du kannst doch nicht in den Besucherräumen schlafen. Außerdem sind es nur Zimmer. Die werden dir nichts tun.«
Sie schob einen schweren Vorhang zur Seite und zog ihn in die Räumlichkeiten, die nur der königlichen Familie vorbehalten waren.
Während er durch die Zimmer ging, drängten sich immer mehr längst vergessen geglaubte Kindheitserinnerungen auf. Doch keine Einzige von ihnen war erfreulich. Lange Jahre hatte sich die Decke des Vergessens über seine trostlosen Kinderjahre gelegt, aber zusammen mit dem Vorhang hatte Caitlin sie jetzt fortgerissen. Er sah einen Stuhl und sah seine Mutter vor sich, wie sie darauf saß, die Falten ihres Kleides glättete und ihre Kinder unterdessen daraufhin musterte, ob sie auch dem Anlass entsprechend gekleidet waren. Er hörte ihre Stimme, die Brandon aufforderte, darauf zu achten, dass dieses Kind nichts anstellte. Für Nemedala war er nie Rhonan oder der Sohn oder der Bruder gewesen, sondern immer nur dieses Kind. Nie hatte er verstanden, warum sie seine Geschwister zärtlich umarmt und geküsst hatte und regelmäßig zurückgezuckt war, wenn er ihr nur die Hand hatte geben wollen.
Er hörte wieder die Worte seines Vaters: Gib einfach dein Bestes, Rhonan! Er hatte sich angestrengt, hatte gelernt und geübt bis zum Umfallen, aber er hatte stets nur dieselben Worte gehört. Es ist alles schwierig. Du musst wirklich dein Bestes geben! Er hatte sich die größte Mühe gegeben, weil er irgendwann geglaubt hatte, dass Zuneigung nur durch Leistung erworben werden konnte, aber es hatte nie gereicht.
Schließlich hatte er angenommen, dass sein Bestes einfach nicht gut genug war, und nur noch gesprochen, wenn er etwas gefragt worden war, hatte alle Aufgaben seiner zahlreichen Lehrer sofort und bestmöglich erledigt, hatte sich nie beschwert, weder darüber, dass in seinen Räumen nie ein Feuer entfacht worden war, gleichgültig, wie kalt es gewesen war, noch über die Prügel, die er ständig von Mathew oder Brandon bezogen hatte.
Aber während seine Geschwister mit lieben Worten und Lob überschüttet worden waren, war er nie beachtet worden und hatte stets abseits gesessen und sich gefragt, was er falsch machte. Die Mauern von da’Kandar und insbesondere diese Familienräume waren für ihn immer kalt und abweisend gewesen. Jedes Mal, wenn die Diener ihn aus seinem Turm geholt hatten, hatte er Herzklopfen bekommen. Und auch heute fühlte er sich wie damals nur als unerwünschter Eindringling.
Von Caitlin jetzt schon fast gewaltsam gezogen, betrat er das Schlafgemach seines Vaters, sah zum Bett mit dem da’Kandar-Wappen und spürte erneut Schweiß auf der Stirn. Hier hatten über Generationen hin Könige geruht, und er selbst war nur eine widernatürliche Züchtung. Er gehörte nicht hierher.
Seine Frau zerrte ihn schon in den sich anschließenden Baderaum, und wie durch einen Nebel sah er schwatzende junge Frauen Trockentücher ausbreiten, Öle zurechtstellen und heißes Wasser in die große Wanne gießen.
Bei ihrem Eintritt verstummten sie, versanken in tiefe Knickse und eilten dann auf ihren neuen Herrn zu, um ihm beim Entkleiden zu helfen.
Er starrte sie entgeistert an und hob in einer abwehrenden Geste die Hände.
»Danke! Ihr habt alles sehr schön hergerichtet. Ihr könnt jetzt zur Feier gehen. Ich werde den König heute bedienen«, erklärte Caitlin mit einem Lächeln.
Die jungen Mädchen knicksten erneut und zogen sich zurück, offensichtlich erfreut darüber, noch etwas von dem Fest mitzubekommen. Schließlich warteten draußen die berühmten Flammenreiter. Ihr munteres Gekicher und Geplauder war noch eine Zeitlang zu hören.
Die Prinzessin baute sich indes vor ihrem Mann auf. »Hallo, Liebster, bist du hier irgendwo?«
»Ja, aber ich habe kein Recht, hier zu sein«, gab er heiser zurück.
Sie rollte mit den Augen, während sie ihm den Schwertgürtel abnahm und sich daranmachte, sein Hemd aufzuknüpfen. »Unsinn! Du bist Rhonan
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