Das vierte Skalpell
Rumflasche durch das Fenster und goß
mir einen ein. Mein Magen erwärmte sich, und der Schnupftabaksdunst des
Getränkes stieg mir in die Nebenhöhlen.
Es gab mehrere Möglichkeiten. Die
wahrscheinlichste war: Sie war doch schon hier gewesen und scheute sich, noch
mal herzukommen. Trotz ihres ahnungslosen Gesichtes. Oder sie legte keinen Wert
auf mich. Konnte sein.
Oder sie machte sich besonders schön.
Bei dieser Möglichkeit blieb ich, weil
sie die angenehmste war. Eine halbe Stunde war ja auch gar keine Zeit für ein
Mädchen, das zum erstenmal kommen wollte. Und wenn sie nicht kommen würde,
sagte das auch noch nichts. Erst mal versetzen und dann mal sehen. So war das
immer.
Als meine Uhr dreiviertel neun
anzeigte, bekam ich langsam einen bitteren Geschmack im Hals. Ich goß noch
einen Rum hinunter.
Ach was, sollte sie der Teufel holen!
Aber schön wäre es gewesen, bei Gott.
Als ich mir den dritten einschenkte,
klingelte es einmal kurz.
Wie der Blitz war ich hoch, stieß mir
eklig das Knie am Tisch und warf dabei das Glas um. Der Rum floß duftend über
die Tischplatte. Als ich die Tür erreicht hatte, blieb ich mit einem Ruck
stehen.
Wenn das nicht Evelyn war? Wenn der...
Die Klingel schrillte wieder, hart und
dringlich.
Ich sah mich um. Was konnte man nehmen?
Die Rumflasche!
Ich schlug den Korken hinein und griff
sie am Hals. Dann ging ich hinaus. Einen Moment zögerte ich, bevor ich den
Schlüssel herumdrehte und die Tür öffnete. Dann tat ich es.
VI
Draußen stand Evelyn. Sie trug einen
dunklen Pelzmantel und hielt den Kopf schief.
»Sehr schlimm?«
Dann sah sie die Flasche. »Was wollen
Sie denn damit?« »Damit wollte ich Sie erschlagen«, sagte ich und bemühte mich
krampfhaft, meine Freude zu verbergen. »Aber es wäre schade um den guten Rum.
Kommen Sie rein.«
Ich schälte sie aus dem Mantel und stieß
die Tür auf.
Von der Seite sah ich ihr Gesicht.
Nichts darin deutete darauf hin, daß sie diesen Raum schon jemals betreten
hatte. Es war, als ob sie in einen Straßenbahnwagen einstiege. Aber es schien
ihr zu gefallen.
»Nett hier«, sagte sie. »Bloß ein
bißchen kahl. Wohnen Sie immer im Keller?«
»Man kann nicht aus dem Fenster fallen.
Außerdem lebe ich hier schallsicher.«
»Kommt kein Lärm von außen rein?«
»Nein, von innen nicht raus. Auf welche
Couch wollen Sie?«
»Auf die andere. Ich dachte, Sie hätten
nur zwei Stühle.«
»Ich habe mich geirrt. Gehen Sie immer
auf die andere Couch?«
»Immer.«
»Das ist lobenswert«, sagte ich.
»Nichts geht über ein tugendsames Mädchen. Wie ist es — Rum mit Cola oder Gin
mit Zitrone?«
»Coca mit Zitrone.«
»Dann werde ich Gin mit Rum trinken.«
Während ich den verschütteten Rum
wegwischte und die Getränke zusammengoß, sah sie sich genauer um.
»Aus der Wohnung könnte man was
machen.«
»Machen Sie was draus«, sagte ich.
»Niemand wird Sie hindern. Nur nicht zu viele Schlingpflanzen. Ich habe ein
Zimmer gemietet und keinen botanischen Garten.«
»Ach.« Sie deutete auf meine
Hollywoodtapete. »Ich dachte, es wäre ein Mädchenhandelsbüro.«
»Deswegen sind Sie ja auch hier«, sagte
ich. »Mein Agent in Paraguay sucht so was wie Sie als Modell für ‘ne
Wachsfigurenfabrik. Zur Zeit werden hohe Quoten bezahlt. Aber — beim Barte des
Propheten, Evelyn — diese Paßbilder hat mein Vorgänger hinterlassen. Ich hätte
sie gar nicht so schnell ausschneiden können. War immer schon schlecht in
Zeichnen und Kunstbetrachtung. Außerdem war ich froh, daß wenigstens was in der
Bude hing.«
Ich sah, daß Evelyn mir glaubte.
»Sie müssen noch froher sein über die
Bude selbst«, sagte sie »Hier kriegt man als Anfänger nicht so leicht was. Wie
kam’s denn?«
»Reiner Zufall«, sagte ich, »Der Herr
mußte plötzlich weg. Weit und sehr schnell.«
Ihre Augen gingen aufmerksam über mein
Gesicht. Wie schnell die Mädchen doch merken, wenn man an was anderes denkt.
Ich grinste und hob mein Glas. »Prost,
Miß Coca-Cola! Es lebe Herr Röntgen und die nach ihm benannten Assistentinnen!«
Sie trank und verzog das Gesicht.
»Da ist ja doch Rum drin!«
»Na, so was«, sagte ich. »Woher kennen
Sie überhaupt den Geschmack? Da sieht man, hinter welch schönen Masken sich die
Trunksucht verbirgt. Rum ist das männlichste Getränk, Fräulein Evelyn. Nicht
jeden lade ich dazu ein.«
»Warum dann mich?«
Jetzt will sie es wissen, dachte ich.
Ich sah sie an. Sie hatte sich
zurückgelehnt und
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