Das vierte Skalpell
»Die Welt ist nun mal ein Affenkäfig.«
Sie schüttelte den Kopf und nahm eine
Zigarette. Ich gab ihr Feuer, und sie blies eine blaue Wolke in die Luft.
»Kläuschen! Er war Famulus auf unserer
Chirurgie.«
»Ach so«, sagte ich und fürchtete, sehr
dämlich auszusehen.
»]a. Ruschke kennt ihn auch. Ich
glaube, Kläuschen war furchtbar verliebt in mich. Er hatte einen Roller und
wollte mich immer zum Schwimmen einladen. Und« — ihre Augen huschten über die
Wände — »und hierher.«
»Schade, daß Sie nicht hier waren.«
»Wieso?«
»Dann wüßten Sie, daß das nicht meine
Bilder sind. Ich würde sie alle hergeben für eins von Ihnen.«
Wir sahen uns lange an. Sie schlug
zuerst die Augen nieder.
»Mochten Sie ihn nicht?« fragte ich
leise.
Sie hob sie Schultern. »Was heißt
mögen! Er war nett, aber — ach, er tat mir so leid. Ich glaube, es hat ihn
ziemlich mitgenommen.«
»Kann ich ihm nachfühlen«, brummte ich.
»Wissen Sie, wo er jetzt ist?« fragte
sie nach einer Pause.
Nein, dachte ich. Niemand weiß es.
»Er erzählte was von Freiburg.«
»Ja, ich glaube, da war er her. Sprach
so eine Art schwäbisch. Er muß jetzt bald fertig sein.«
»So«, sagte ich. »Wann war er denn da?«
»Vorigen Sommer. Drei Monate, die
ganzen Semesterferien. Und das unter Steimles Regie.«
»Armer Mann«, sagte ich.
Vorigen Sommer. Am gleichen Krankenhaus
wie ich. Ob Nogees das schon heraus hatte? Und Evelyn hatte er geliebt. Sie saß
zwei Meter von dem Stuhl entfernt, in dem er den Tod gefunden hatte, und wußte
nichts davon. War das sicher, daß sie nichts wußte? Nichts war sicher auf
dieser Welt.
»Woran denken Sie?«
Ich betrachtete meine Fußspitzen.
»Daran, wieviel besser ich es habe als
er«, sagte ich. »Und wie sehr ich mich darüber freue,«
Ich hob schnell den Kopf und sah noch
den Rest ihres Lächelns. »Prost, Evelyn!«
Wir tranken. Evelyn sah zur Uhr.
»Mein Gott, in zwölf Minuten geht mein
Bus! Der letzte!«
»Faules Straßenbahnervolk«, sägte ich.
»Hat’s Ihnen gefallen?«
»Ja, mein Herr. Besonders eins.«
»Was?«
»Sage ich nicht.«
»Hm. Mich hat auch was gefreut.«
Sie hielt es keine zehn Sekunden aus.
»Und?«
»Neugierde, dein Name ist Weib. Daß Ihr
Bild nur so bei Wildbolz stand.«
»Es stand nur so da. Er hat mich im
Institut geknipst, ohne vorher zu fragen.«
»Das werden die besten Bilder«, sagte
ich. »Übrigens — mein Schreibtisch ist so leer.«
»Ungeduld, dein Name ist Mann. Los,
erheben Sie sich!«
Ich öffnete das Fenster, und dann
gingen wir.
Auf der Straße war es frostig und
windstill. Durch die klare Luft funkelten eisblaue Sterne. Unsere Schritte
hallten von den Häuserwänden. Ich nahm Evelyns Arm und schob ihn unter meinen.
»Der Rum wird Vorhalten, bis Sie im
Bett sind. Was tun Sie morgen?«
»Ich widme mich der Verwandtschaft. Und
Sie?«
»Räume auf und denke an Sie.«
»So.« Sie sah geradeaus. Eine Weile
sprachen wir nicht.
»Evelyn«, fing ich wieder an, »zwei Dinge wünsche ich mir.«
»Was denn?«
»Daß Sie wiederkommen. Und daß Sie mal
mit mir auf den Fasching gehen.«
»Wollen Sie da nicht lieber allein
hin?«
»Man gerät so leicht in schlechte
Hände«, sagte ich. »Und dann wird es immer so teuer.«
»Scheint Ihnen schon passiert zu sein.«
»Deswegen will ich es in Zukunft
vermeiden.«
Wir erreichten die Haltestelle und
blieben stehen. Kein Mensch war auf der Straße.
»Vielen Dank für Ihre Beteiligung,
Evelyn«, sagte ich. »Wünsche eine friedliche Nacht. Wovon werden Sie träumen?«
»Irgendwas aus Tausendundeiner Nacht«,
antwortete sie.
Hinter der Brücke tauchten die Lichter
des Busses auf. Die Preßlufttüren fauchten, als er hielt und wieder anfuhr. Ich
winkte, und Evelyn hob kurz die Hand hinter der Scheibe.
Ich wanderte zurück und lag bald darauf
lang. Im Zimmer war kein Laut. Die glühenden Augen der Ofenklappe sahen durch
das Dunkel zu mir her, und in der Winterluft, die inzwischen hereingeströmt
war, hing ein zarter Dunst von Rauch, Rum und Parfüm.
Ich verschränkte die Arme hinter dem
Kopf. Wunderbar ist sie, dachte ich. Seine Freundin war sie nicht, und seine
Mörderin ist sie nicht. Oder ich war der größte Trottel aller Zeiten.
Und Wildbolz? Im Krankenhaus hatte sie
ihn kennengelernt, genau wie mich. Lag dort der Anfang der Spur? Ruschke, der
würde vielleicht was wissen. Und Nogees mußte es erfahren.
Meine Gedanken verschwammen und
verloren die richtige Reihenfolge. Nogees muß
Weitere Kostenlose Bücher