Das Vorzelt zur Hölle: Wie ich die Familienurlaube meiner Kindheit überlebte
ich …
… ich bin keinen Deut anders als mein Vater.
Ob dieser Erkenntnis musste ich erst einmal pausieren und ein paar Minuten lang Löcher in die flirrende Hitze starren. Aber die Erkenntnis war eindeutig. Wie ich es auch drehte und wendete, ich war der Sohn meines Vaters, und ich konnte mich auf den Kopf stellen und die Christl von der Post rückwärts singen – das würde nichts ändern. Die Fakten:
Ich hatte mir selbst eine Aufgabe gestellt, die alleine deutlich schwieriger zu lösen war als zu zweit.
Ich hatte die möglichen Unwägbarkeiten nicht nur unterschätzt, sondern ignoriert.
Je nervtötender es wurde, desto entschlossener war ich.
Je anstrengender es war, desto mehr Spaß machte es mir.
Schließlich kam ich wieder in Bewegung. Nachdenklich klopfte ich die letzten Heringe schief in den plötzlich recht steinigen Boden und zurrte die letzten Spannleinen fest. Dann räumte ich die paar Einrichtungsgegenstände an ihre neuen Plätze und reparierte die zusammengefallene Ecke der Schlafkoje notdürftig durch Zusammenbinden des Eckzipfels mit einem Stück Schnur, das ich von einer der anderen Leinen mit dem Feuerzeug abgebrannt hatte.
Dann trat ich vor mein Werk und sah, dass es gut war. Dann wurde mir plötzlich fürchterlich schwindelig. Wasser …
Nachdem ich ein paar Liter getrunken hatte, ging es mir zwar besser, aber ich war nach wie vor in Gedanken. Langsam kamen mir nämlich noch andere Begebenheiten in den Sinn, die zwar nichts mit Camping zu tun hatten, aber trotzdem irgendwie die gleiche Grundkonstellation bargen: Theoretisch gesprochen ging es immer und immer wieder um Aufgaben, die eigentlich unmöglich schienen und die ich aber unbedingt und gerade deswegen wild entschlossen anging.
Ein aktuelles Beispiel war doch sogar die Schulband! Noch vor ein paar Wochen hatte ich in einer anderen Band gespielt, und als mich ein älteres Mädchen fragte, wie viel es kosten würde, wenn wir auf ihrem achtzehnten Geburtstag spielen würden, hatte ich kurzerhand vorgeschlagen, dass ich »mit meiner anderen Band« umsonst spielen würde. Dort wäre ich Gitarrist und würde singen. Sie freute sich und sagte zu. Ich freute mich auch und ging erst einmal eine Gitarre kaufen, denn ich musste nun innerhalb von zwei Monaten irgendwie eine Band zusammentrommeln, Gitarre lernen und dann auch noch ein abendfüllendes Programm einproben!
Warum hatte ich das getan? Weil ich eben – ganz wie mein Vater – erst dann wirklich über mich selbst hinauswuchs, wenn ich eine entsprechende Aufgabe hatte, an der ich wachsen konnte. Oder musste.
In gewisser Weise ist das auch heute noch so, und so entstanden im Laufe der Zeit die irrsten Produkte. Die RTL-Samstag-Nacht -Rubrik »FAR OUT« mit Mirco Nontschew und mir als Tester von Extremtrends aus den USA war auch so ein Fall: Wir hatten uns zusammen mit den Autoren etwas ausgedacht, und es war jedes Mal völlig unmöglich im Rahmen der Drehzeit, des Budgets und des Aufwands in der Nachbearbeitung. Gerade die Unmöglichkeitsvermutung aber feuerte mich so sehr an, dass ich alle anderen mitzog und wir in über vierzig Folgen ein paar wirklich erstaunliche Dinger auf die Beine stellten. Wir schossen uns beim »Extreme Silvestering« selbst als Raketen quer durch den Park, rollten zusammen mit Snowboards eingeklebt in Rhönräder die Abhänge hinunter für das »Extreme Summersnowboarding« oder kletterten auf gigantische Fabrikschornsteine, um dort oben fürs »Extreme Kiffing« säckeweise Hanf hineinzukippen. Zweieinhalb Stunden Drehzeit, dann Karim und Co. im Schnitt nerven und eine Nacht lang zusammen mit Martin Ernst den ganzen Wahnsinn noch mit einem handgemachten Rock-Soundtrack versehen – das war vor allem in den Zeiten vor dem Digitalschnitt von Festplatte ein wöchentliches Ding der Unmöglichkeit. Ich stand zwei Jahre lang unter Strom, und ich liebte jede Sekunde!
Mein Vater hatte in seinem Job bei der Post kaum mit solchen Widrigkeiten zu kämpfen. Aber im Radsport gab es natürlich genug Gelegenheiten, über sich selbst hinauszuwachsen, und neben seinem Talent war es sicher der entscheidende Faktor, dass es ihm Freude bereitete, sich selbst und allen anderen immer wieder zu beweisen, dass das Unmögliche für ihn möglich war. Weil er es ignorierte.
Aber weil ihm das nicht genügte oder vielleicht zu monothematisch war, musste es eben auch und gerade im Urlaub noch ein bisschen mehr sein. Diese Straße ist nicht befahrbar – außer für uns.
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