Das wahre Leben
wenn Sie diese Gefühle nicht hätten», kommentierte Doktor Fankhauser ihre Zweifel. Und dann, neugierig geworden: «Ist es denn das Ziel von Yoga, nichts zu fühlen?»
Darüber musste Nevada erst nachdenken. War Nirodah, das Verebben der brandenden Gischt der Gedanken, auch ein Stilllegen der Gefühle?
«Müsste Ihnen Yoga jetzt nicht besonders helfen?», fragte der Arzt weiter, der seine Aversion gegen alternative Heilmethoden sonst besser verbarg.
«Schon. Nur anders.»
Der Atem war ihr geblieben. Sie lernte, den Schmerz mit ihrem Atem zu umspülen, ihn abzutragen, unmerklich, aber stetig, mit jedem Atemzug, wie eine Welle, die eine Glasscherbe abschleift. Sie schloss die Augen, fuhr im Geist ihren Körper ab, von den Zehen bis zu den Haarwurzeln. Wie mit zarten Fühlern tastete sie sich ihren schmerzenden Muskeln entlang, fühlte Knoten und Verkrampfungen, Schwäche und Schmerz. Sie benannte jede einzelne Empfindung. Körperliche Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Dharma waren die vier Pfeiler des Bewusstseins. Die vier Pfeiler der Vertiefung. So tastete sie sich von ihren realen körperlichen Schmerzen über die Gefühle der Verzweiflung und Mutlosigkeit zu ihren Gedanken vor, die oft um die Frage kreisten, was das alles sollte. Und erst wenn sie durch diese drei Phasen geglitten war, konnte sie das Gesamtbild erkennen, ihre Aufgabe, ihr Dharma .
Die Krankheit hatte sie befreit von den selbstauferlegten Fesseln der Perfektion, von der fixen Idee, ihren Körper bekämpfen zu wollen, kontrollieren zu müssen. Befreit auch vom Selbsthass, von dieser Stimme in ihrem Kopf, die sie ununterbrochen kritisierte und antrieb. Die Krankheit brachte sie zum Schweigen. Mindestens für einen Moment. Und für diesen Moment schien Nevada der Invalidenausweis, der Rollstuhl, selbst der konstante Schmerz ein kleiner Preis zu sein. Doch der Moment verflog, und im nächsten haderte sie wieder. Sie kämpfte gegen die Schmerzen, lehnte sich auf gegen den fortschreitenden Zerfall ihres Körpers. Jeder Körper zerfiel. Dieser Prozess war unaufhaltsam und endete immer gleich: mit dem Tod. Nevadas Krankheit war nichts als ein Beschleuniger. Ein Sichtbarmacher.
So stand sie in der überfüllten S-Bahn an die Wand gedrängt und sortierte: Selbstmitleid, Zweifel, Schmerz. Eins nach dem anderen löste sich auf und verschwand. Sie atmete ein, sie atmete aus. Dann nahm sie ihr Handy aus der Manteltasche und rief Ted an.
«Ich bin in der S-Bahn», sagte sie. «Kannst du mich am Bahnhof abholen?»
«Hätte ich ohnehin gemacht.»
«Danke.»
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Ted begrüÃte sie, wie es viele Yogaschüler taten, mit einer kleinen Verbeugung, die Handflächen über der Brust zusammengelegt. Nevada boxte ihn mit ihrer freien Hand in die Schulter, stützte sich dann auf ihn.
«Schlechter Tag?», fragte Ted.
Sie zuckte die Schultern. Was sie vor sechs Monaten noch als schlechten Tag bezeichnet hätte, war Alltag geworden.
«Erinnerst du dich an Stefanie? Sie verbringt die Ferien bei uns. Und sie macht das Programm mit.»
«Ich wollte schon immer Yoga machen!» Die junge Frau streckte höflich die Hand aus. Teds Stieftochter, meinte Nevada sich zu erinnern. Oder die Stieftochter seiner Frau Marie? Zusammen hatten sie unterdessen vier oder fünf Töchter, eine blonder als die andere. Stefanie sah sehr erwachsen aus. Sehr vernünftig. Nevada konnte sich nicht vorstellen, dass sie in Schwierigkeiten geraten war.
Ted führte sie durch die Unterführung und in die Siedlung. Es war kein weiter Weg, aber Nevada hatte ihn sich allein nicht mehr zugetraut. Nicht heute. Vielleicht nie wieder.
Selbst so, auf Ted und auf ihren Stock gestützt, war er kaum zu bewältigen. Der unebene Kiesweg hielt ihre FuÃsohlen fest wie Treibsand, zog sie nach unten. Die schiere Anstrengung, einen Fuà nach dem anderen zu heben und abzusetzen, verschlug Nevada den Atem. Sie biss die Zähne zusammen. Keuchte. Die schmalen, hohen Wohntürme der Siedlung flimmerten vor ihren Augen wie eine Fata Morgana.
Vor zwei Jahren war die Siedlung als Modell urbaner Integration eröffnet worden. Mitten in einem «problematischen» Randquartier sollte die Zukunft gestaltet werden. Durch das Zusammenleben verschiedener Kulturen, Altersgruppen, Einkommensschichten. Es gab eine Schule, eine Gemeinschaftspraxis, verschiedene Läden,
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