Das wahre Leben
Schule, die die Mädchen besuchten, und hatte dieses Sommerferienprogramm zusammen mit einer Sozialarbeiterin entworfen. «Als letzte Chance sozusagen», hatte Ted gesagt. «Bevor wir andere MaÃnahmen ergreifen müssen.» Nevada fragte sich, ob eine Yogastunde, die nicht freiwillig besucht, sondern als Strafe auferlegt wurde, wirklich hilfreich sein konnte. Aber es war schon länger her, dass sie zugesagt hatte. Und schwierige Mädchen durfte man nicht enttäuschen. Sie würden genau das erwarten.
Am späteren Nachmittag hatte sie auÃerdem einen Termin mit Fankhauser. Vielleicht sollte sie ihn doch bitten, ihr etwas zu verschreiben. Ein Antidepressivum, das sich mit dem Interferon vertrug.
«Nevada, zwanzig nach!», rief Sierra. Und einen Moment später: «Brauchst du Hilfe?»
Nevada bewohnte ein ehemaliges Therapiezimmer in der Oase. Das hatte neuerdings Schwierigkeiten verursacht. Die Oase öffnete morgens bereits um acht Uhr, Frauen kamen zu Beratungen und Gruppenstunden. Nevada fiel es von Tag zu Tag schwerer, morgens um acht schon geduscht und angekleidet zu sein. Sie hatte kein eigenes Bad. Sie konnte zwar die luxuriösen Wasserfallduschen, das Dampfbad und das Sprudelbecken benutzen, aber nur auÃerhalb der Ãffnungszeiten. Sie wollte nicht, dass fremde Frauen oder, noch schlimmer, Frauen, die ihre Yogatherapiestunden besuchten, sahen, wie umständlich, wie qualvoll sie sich in das Sprudelbecken sinken lieÃ. Das warme Wasser war auch immer schwerer zu ertragen; das Sprudeln, der Druck der Düsen weckten ihre Schmerzen.
«Nevada?», rief Sierra noch einmal. Nevada antwortete nicht, und einen Moment später öffnete Sierra die Tür. Mit einem Schritt war sie bei ihr, kniete sich neben das Bett, bohrte ihre Fingerknöchel in Nevadas Schenkel, bis sie vor Schmerz aufschrie.
«Und jetzt?» Sierra hob die Hände, als wollte sie sich ergeben.
Nevada legte den Kopf schief, als lauschte sie dem Schmerz nach. «Besser», sagte sie schlieÃlich. Der konstant summende Schmerz in ihren Beinen war vor Sierras zupackenden Fingern zurückgewichen. Er hielt Abstand, wie ein Brummen aus der Ferne, unangenehm, bedrohlich, aber auszuhalten.
«Danke.» Nevada stand auf. Sie packte ihre Beine und hob sie über die Bettkante. Als ihre FüÃe den Boden berührten, fühlte sie erst einmal nichts. Sie schaute hinab. Da standen ihre FüÃe, nebeneinander, auf dem Bambusparkett. Tapfere FüÃe, dachte Nevada. Man sah ihnen die Jahre in Spitzenschuhen immer noch an. Sie wackelte mit den Zehen, spreizte sie. Langsam kehrte das Leben in sie zurück. Sie spürte den Boden. Sie lehnte sich nach vorn und stand auf. Neben dem Bett stand ihr Rollator bereit. Sie lieà ihn stehen und griff stattdessen nach dem Stock. Dabei wusste sie jetzt schon, dass dies kein guter Tag war. Sie hatte schon lange keinen mehr gehabt. Ihre Krankheit war sprunghaft fortgeschritten, in schnellen Schüben. Zwei Jahre nach der Diagnose stritt sie mit ihrem Arzt schon über den Rollstuhl. Nevada weigerte sich, den auch nur in Betracht zu ziehen. Der Rollstuhl bedeutete das Ende.
«Was hast du heute vor?», fragte Sierra.
Nevada überlegte. Die Medikamente machten ihren Kopf wattig, dämpften, verlangsamten ihre Gedanken. Sie ertappte sich manchmal dabei, wie sie minutenlang ins Leere starrte und keinen Gedanken hatte. War es das, was sie beim Meditieren zu erreichen versuchte? War das Nirodah? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Es war kein angenehmer Zustand.
«Mädchen», fiel es ihr schlieÃlich wieder ein. «Die schwierigen Mädchen. In der Siedlung.»
«Ist ja blöd, dass du dafür jeden Tag nach Seebach rausfahren musst», sagte Sierra. «Und dann noch bei der Hitze. Soll ich dir ein Behindertentaxi bestellen?»
«Behindertentaxi, so weit kommtâs noch!» Nevada nahm diesen Dienst nur dann in Anspruch, wenn es gar nicht anders ging. Wenn sie einen akuten Schub hatte.
«Die S-Bahn ist aber um diese Zeit sehr voll», gab Sierra zu bedenken. «Bist du sicher?»
«Ganz sicher.» Nevada stütze sich auf den Stock und stand vorsichtig auf. Sie schaute nach oben, als fürchtete sie, die Decke könnte auf sie herunterfallen und sie erschlagen.
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Nevada hatte einen Plastikstuhl in die Dusche gestellt. Umständlich setzte sie sich darauf und lieà das kühle Wasser auf ihre
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