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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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wie eine Welle im Ozean. «Denkt an den Atem!» Elma drehte sich um, und die Mädchen verstummten wieder. Das Keuchen wurde lauter. Das Atemgeräusch im Raum konstant zu halten war ein kollektives Bemühen geworden.
    Â«Nun den Kopf anheben – einatmen – und wieder senken. Macht das noch dreimal in eurem eigenen Rhythmus. Achtet darauf, dass der Atem genau gleich lang einfließt … ein-, zwei, drei, vier – und aus-, zwei, drei, vier …»
    Sofort fiel die Gruppe wieder auseinander. Die Mädchen beobachteten sich gegenseitig, wie bewegten sich die anderen, wie schnell atmeten sie? Tuschelnd korrigierten sie einander: «Mann, Kopf runter, hat sie gesagt!» – «Schlampe, mach’s doch besser!»
    Schnell nahm Nevada den Faden wieder auf. Das individuelle Üben musste warten. «Und alle zusammen: rechtes Bein zurück! Die Hände bleiben auf dem Boden, schaut auf.» Es dauerte eine Weile, bis sie alle acht Mädchen in der Stellung des tapferen Kriegers hatte. «Tapfere Kriegerin» nannte sie die Asana heute. Sie ließ die Mädchen alle Varianten der Kriegerin einnehmen, die ihr einfielen. Arme zur Seite, Arme nach vorn. Der Atem zerfiel, einige Mädchen hatten Mühe, die Stellungen zu halten. Arme wehten in der Luft wie Halme, Beine zitterten. Nevada stand wieder auf. Sie ging zwischen den Mädchen hindurch, legte eine Hand auf einen Rücken, strich ihn sanft gerade. Das Mädchen zuckte zusammen. Berührungen, dachte Nevada. Sie dachte an wilde Pferde. Die Mädchen schlugen aus, weil sie Angst hatten.
    Aus dem Augenwinkel sah sie Ted vor der Glastür stehen. Sie schaute auf die Uhr: Die Stunde war fast vorüber. Instinktiv wusste sie, dass sich diese Mädchen nicht auf den Rücken legen, sich wehrlos ausliefern würden. Sie ließ sie im Sitzen entspannen. Es war ruhig im Raum. Nevada ließ sie langsam ein- und ausatmen und dazu im Kopf die Formel Ham-Sa wiederholen. «Sa ham sa ham sa …»
    Ich bin die.
    Ich bin die.
    Ich bin die ich bin die ich bin die ich bin die ich bin die …
    Â 
4.
    Â«Frau Marthaler?» Die Sekretärin von Doktor Fankhauser blickte kühl über den Rand ihrer Lesebrille. Sie hatte Nevada nie ganz verziehen, dass sie ihren Chef mit ihrer Schwester Sierra bekanntgemacht hatte. Diese hatte dem Neurologen nach einer kurzen, verwirrenden Affäre das Herz gebrochen. Ohne böse Absicht.
    Â«Sie kann nichts dafür», wollte Nevada sie entschuldigen. «Sie meint es nicht so.» Stattdessen akzeptierte sie die Bestrafung stillschweigend. Sie akzeptierte, dass ihre Termine bei Doktor Fankhauser immer mitten im Tag lagen und dass sie, egal ob das Wartezimmer leer war oder voll, mindestens eine Stunde dort ausharren musste. Auch heute.
    Â«Nehmen Sie noch einen Augenblick Platz», sagte Frau Furrer und schickte Nevada ans andere Ende des Flurs. Nevada stützte sich schwerer auf ihren Stock als nötig und ließ die Füße schleifen. Sie glaubte nicht, dass sie Frau Furrer damit beeindruckte. Das Wartezimmer war klein und spartanisch eingerichtet. Zerlesene Zeitschriften berichteten von Menschen, die trotz neurologischer Probleme Großes leisteten. In einer Ecke stand eine Kiste voller alter Legosteine und ein großer Stall, in dem alle möglichen Holztiere standen. Nevada hatte noch nie ein Kind im Wartezimmer gesehen, und sie war froh darüber. Sie wollte sich nicht vorstellen, was ein Kind zu Fankhauser führte. Heute war das Wartezimmer leer, bis auf einen jungen Mann in einem blauen Kapuzenpullover. Er hielt eine Holzkuh in der Hand und studierte sie mit gerunzelter Stirn. Er schaute auf, als Nevada hereinkam.
    Â«Kuh», seufzte er.
    Nevada lehnte ihren Stock an eine Stuhllehne. Ihr linkes Bein knickte ein, sie plumpste seitlich auf die Sitzfläche. Fünfzehn Jahre Ballett, fünfzehn Jahre Yoga, eine Krankheit, und sie bewegte sich wie eine …
    Â«Wie bitte? Kuh?»
    Â«Nicht du.» Der junge Mann hielt sich das Holztier vors Gesicht und musterte es mit einer Intensität, als wüsste es alle Antworten. Er schüttelte den Kopf. «Sorry. Hirntumor», sagte er. «Du?»
    Nevada zögerte. Wollte er ihre Diagnose hören?
    Er schob die Kapuze vom Kopf, seine Kopfhaut war blass und kahl. «Inoperabel. Und du? Chemo … überstanden? Wie viele … Runden?» Er sprach langsam, mit Pausen zwischen den Worten. Trotzdem

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