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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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länger geschlossen halten. Ted stand noch an der Tür. Er hatte angeboten zu bleiben. Nevada hatte abgelehnt. Jetzt fragte sie sich, ob das nicht ein Fehler gewesen war. Doch sie ließ sich nichts anmerken, nickte Ted beruhigend zu.
    Nacheinander kamen die Mädchen herein. Manche waren sehr dünn, andere dick. Sie hatten sich nicht umgezogen. Einige trugen bauchfreie Oberteile, tiefsitzende enge Hosen, ein Mädchen trug ein Kopftuch, ein anderes eine hautenge grasgrüne Jeans.
    Ohne sich abzusprechen, nahmen sie ihre Plätze auf den Matten ein. Die Dickeren vorn, die Dünneren hinten, die Hautfarbe wurde von der Tür Richtung Fenster heller. Stefanie hielt sich ein wenig abseits. Sie gehörte weder zur Gruppe noch zur Lehrerin. Der Platz am Rand schien ihr nicht fremd.
    Nevada ließ ihren Blick über die zusammengewürfelte Gruppe wandern. Sie versuchte die Stimmung einzuschätzen. Es lag eine latente Angriffslust in der Luft, die sich eher defensiv anfühlte. Diese Mädchen waren auf der Hut. Einige, das spürte sie, gehörten zusammen, andere nicht. Feindselige Blicke gingen hin und her, es war ein Tuscheln, Kichern, Schubsen. Nevada wartete. Doch der Lärm legte sich nicht von allein. Die Mädchen redeten weiter, als sei sie gar nicht da.
    Â«Setzt euch hin», sagte sie schließlich. «Setzt euch so hin, dass es für euch bequem ist, mit gekreuzten Beinen oder auf den Knien.»
    Â«Warum kann ich keinen Stuhl haben?», fragte eins der dickeren Mädchen.
    Â«Warum haben Sie einen Stuhl?»
    Â«Ich sitze auf einem Stuhl, weil ich behindert bin», sagte Nevada ruhig. Das sagte sie sonst nicht, sie nahm das Wort nicht in den Mund, aber sie wollte es aussprechen, bevor es die Mädchen taten. Das Wort explodierte zwischen den Reihen: «Behindert, hahaha! Mongo!»
    Doch dann drehte sich das Mädchen um, das direkt vor Nevada in der Mitte der ersten Reihe saß, und brachte die anderen mit einem Blick zum Schweigen.
    Nevada nickte. «Ich heiße Nevada.» Sie legte die Handflächen zusammen und verbeugte sich leicht zur Gruppe. «Namaste.»
    Eigentlich brauchte sie diese indische Grußformel in ihren Stunden nicht mehr. Sie sah nicht ein, warum man sich nicht in der Sprache begrüßen konnte, in der man auch unterrichtete. Doch diese Mädchen brauchten vielleicht einen geheimen Gruß, eine Art Clubzeichen.
    Â« Namaste ist ein indischer Gruß. Man übersetzt ihn mit: Das Göttliche in mir grüßt das Göttliche in dir.»
    Wieder lachten einige der Mädchen laut heraus. Nevada blieb ruhig. Sie wiederholte die Formel noch einmal und schaute dabei dem Mädchen in der Mitte direkt in die Augen. Nach einem atemlosen Augenblick murmelte diese: «Elma. Namaste. » Und verbeugte sich vor Nevada. Nevada wiederholte den Gruß noch siebenmal. Deniz, Dijana, Tugba, Lana, Deborah, Rebecca, Zeynep … Im Geist notierte sie sich die Namen auf den Matten, und hoffte, dass sie sich beim nächsten Mal nicht anders verteilen würden. Als sie bei der Dritten oder Vierten angelangt war, verstummte das Gelächter, und am Ende war es still in der Turnhalle.
    Â«In der Yogastunde wird nicht gesprochen. Es wird geatmet. Wir atmen auf eine ganz bestimmte Weise.» Sie machte den Ujjayi- Atem vor, der keuchend durch die verengte Luftröhre floss, obwohl sie nicht sicher war, dass diese Mädchen noch mehr Feuer brauchten. Sie übten das Verengen der Stimmritzen. Mühsam stand Nevada auf und ging am Stock zwischen den Matten hindurch. Sie ließ die Mädchen so laut atmen, dass alle anderen Geräusche ausgeblendet wurden. Auch die der eigenen Gedanken. Vor allem die.
    Â«Man nennt das den siegreichen Atem.» Dass dieser Name den Mädchen gefallen würde, hatte sie geahnt. «Der darf nun während der ganzen Stunde nicht mehr verstummen … Steht auf. Hebt die Arme über den Kopf, atmet ein.» Nevada saß wieder auf dem Stuhl, sie deutete die Bewegung im Sitzen an. «Ausatmen – nach vorne beugen. Sucht den Boden mit den Fingerspitzen. Beine gestreckt.» Die Mädchen schauten erst ein bisschen verwirrt, machten dann die Bewegungen im Stehen nach. Elma war die Einzige, die mühelos mit den Händen den Boden berührte. Deborah und Rebecca, zwei dünne Mädchen in der hinteren Reihe, begannen zu jammern.
    Â«Atmen!», rief Nevada und ließ ihren eigenen Ujjayi anschwellen

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