Das wahre Leben
Gemeinschaftsräume. Die Bewohner waren für den Unterhalt der Siedlung selber verantwortlich, bestimmten Hausmeister und Gärtner und Putzequipen. Nach zwei Jahren war die Utopie an den Rändern ausgefranst. In der Mustersiedlung kamen dieselben Probleme auf wie überall. Vandalismus und Gewalt. Rassistische Ãbergriffe. Jugendbanden. Selbst die ziegelrote Farbe, in der die Wohnblöcke gestrichen waren und die in den ersten Monaten vielleicht wie Backstein ausgesehen hatte, war verblichen und wirkte schmuddelig.
Ted schloss die Turnhalle auf. Er hatte die Yogamatten bereits ausgelegt, den kleinen Altar aufgestellt, den Nevada im Geräteschrank deponiert hatte. Die Beziehung zu ihren langjährigen Schülern hatte sich verändert. Sie musste Dinge von ihnen verlangen, die andere Yogalehrer nicht verlangten. Sie mussten ihr helfen, den Raum einzurichten, sich hinzusetzen. Manchmal auch aufzustehen.
Doch in dem Moment, in dem sie die Turnhalle betrat, wurde Nevada ganz ruhig. Die Lehrerin schob die Patientin zur Seite und übernahm. Nevada zündete eine Kerze an, legte die Hände zum Gebet zusammen und verneigte sich. Dabei murmelte sie die Anrufung des Weisen Patanjali, eine Art Dankgebet für die Yoga Sutras. Es war ein uraltes Ritual, das sich in ihrem Körper, in ihrem Geist verankert hatte und von den zerstörten Nervenzellen nicht betroffen war. Ihre Krankheit löschte Dinge aus, die immer selbstverständlich gewesen waren. Aber nicht dies.
Obwohl Nevada kaum mehr die einfachsten Asanas ausführen konnte, war ihr das «Yoga-Gefühl» geblieben, dieses spezifische Vibrieren des Prana, der Lebensenergie, dieses Gefühl, nach der Ãbung wieder lebendig und ganz zu sein. Dieses Gefühl wurde offenbar nicht von der perfekten Ausführung schwieriger Asanas ausgelöst, sondern von etwas anderem. Vom Atem, von der Konzentration, von beidem zusammen? Nevada wusste es nicht. Sie wusste nur, dass die Krankheit diesen Zustand nicht angefressen hatte und auch nicht ihre Möglichkeit, ihn zu erreichen. Nur der Weg dorthin hatte sich verändert.
Sie zählte acht Matten, die in zwei Reihen direkt vor ihrem Stuhl ausgelegt waren. Eine kleine Gruppe.
«Wer sind diese Mädchen?», fragte sie Ted.
Er reichte ihr einen Ordner. «Ich hab dir ein Dossier zusammengestellt. Wenn du es lesen willst?»
«Nicht jetzt. Erzähl mir nur das Wichtigste. Keine Einzelheiten.» Sie wollte unvoreingenommen vor ihre Schülerinnen treten.
«Jedes dieser Mädchen ist aus irgendeinem Grund in der Schule in Schwierigkeiten geraten. Meist wegen Handgreiflichkeiten, Prügeleien, aber auch Schuleschwänzen, betrunken im Unterricht Auftauchen. Ein Mädchen hat zum Beispiel versucht, den Handtuchhalter im Klo in Brand zu stecken â¦Â»
«Handgreiflichkeiten?»
«Ja. Soweit wir wissen, gibt es zwei Mädchenbanden hier in der Siedlung, die sich vor allem untereinander bekämpfen, aber auch sonst allerhand Ãrger machen. Ein paarmal wurde in der Gemeinschaftspraxis eingebrochen, und unten an der Bahnstation wurden Passanten, die den Billettautomaten benutzen wollten, geschlagen und bestohlen. Aber meist gehen sie aufeinander los. Es gab schon Zwischenfälle, die in der Notaufnahme endeten. Die meisten dieser Hardcore- Bandenmädchen gehen natürlich nicht mehr zur Schule. Die können wir gar nicht mehr erreichen. Gegen die, die heute zu dir kommen, liegen keine konkreten Beweise vor. Es ist ein Versuch, sie aufzufangen, bevor sie ganz abstürzen.»
Jeden Tag Yoga, jeden Tag Nachhilfe, Gruppengespräche, gemeinnützige Arbeit in der Siedlung. Jeden Tag, fünf Wochen lang.
«Du erwartest ganz schön viel von mir!»
Ted lächelte. «Ich kenn dich eben.»
Â
3.
Nevada setzte sich mit geradem Rücken auf den Stuhl, legte die Hände in den Schoà und schloss die Augen. Sehr langsam und immer langsamer atmete sie ein und aus. Sie stellte sich unter ihren Händen die Sonne vor, einen Feuerball in ihrem Bauch. Sie atmete ein, und sie atmete aus. Sie hörte die Schritte der Mädchen, schweres Trampeln wie von einer Herde Huftiere, laute Stimmen, Lachen. Dann empörte Ausrufe, als sie an der Tür ihre Handys abgeben mussten.
«ScheiÃe, Mann, nicht fair!»
«Fuuuuck!»
«Verfotzte Turnstunde!»
Es fühlte sich an, als würde sie mit Steinen beworfen. Nevada konnte die Augen nicht
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