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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Kopfhaut prasseln. Ihre Kopfhaut nahm die irritierenden Aufschläge der Wassertropfen am ungerührtesten auf und leitete das Wasser in weichen Strömen weiter. Vor kurzem hatte sie sich, der Einfachheit halber, ihre langen Haare kurz geschnitten. Nach der Dusche rieb sie ihre Glieder mit einer Creme ein, sorgfältig, vorsichtig. Nur den Schmerz nicht wecken! Früher hatte sie sich mit gnadenloser Härte gebürstet, gestriegelt, gezupft und geknetet. Das ließ ihre Haut nicht mehr zu. Sanft strich Nevada über ihre schwachen Beine, ihre kribbeligen Arme, als gehörten sie jemand anderem, jemandem, den sie mochte. Dann zog sie sich an. Die Anstrengung des Tages hatte noch kaum begonnen. Sie hatte geduscht, sich angezogen, eine Tasche gepackt. Und schon wollte sie sich wieder hinlegen. Es war zu viel.
    Â 
2.
    Kurz nach neun Uhr morgens brannte die Sonne schon unbarmherzig auf Nevada herunter und verschlimmerte all ihre Symptome. Seit sie krank war, fürchtete sie, die in Indien gelebt hatte, den Schweizer Sommer. Nevada trug eine Schirmmütze, um ihre Kopfhaut zu schützen, eine kühlende Weste, vernünftige, gut stützende, flache Schuhe. Sie sah aus wie ein Junge. Ein alter Junge, der am Stock ging. Sie wünschte, sie könnte sich auf ihren Rollator stützen, doch der nahm im öffentlichen Verkehr zu viel Platz ein. Wieder dachte sie an den Rollstuhl und schüttelte leise den Kopf.
    Die Trams waren überfüllt. Und alle hatten es eilig. Nevada war langsam. Mit ihrer großen Tasche und ihrem Stock geriet sie den anderen immer wieder in den Weg. Zweimal wurde sie von einer Gruppe junger Mädchen beiseitegeschubst. Sie war nahe daran umzukehren. Wie sollte sie einer Turnhalle voll junger Mädchen gegenübertreten? Schwieriger Mädchen auch noch? Als sie schließlich den Bahnhof erreichte, blieb sie auf dem Perron stehen und schloss die Augen. Sie atmete ein paarmal tief durch. Die letzten Jahre hatten ihre Spiritualität, derer sie sich einmal so sicher gewesen war, auf eine harte Probe gestellt. Ihr Leben hatte aus Yoga bestanden, seit sie knapp siebzehn war. Mehr als die Hälfte ihres Lebens hatte sie sich dem Yoga verschrieben. Doch ihre Studien, so ernsthaft sie waren, hatten sich vor allem auf die körperlichen Aspekte der Lehre beschränkt.
    Nevada hatte immer noch Bilder von sich in schwierigen Yogapositionen, in unmöglich scheinenden Verrenkungen. Ab und zu erschienen die Bilder ohne Vorwarnung auf ihrem Bildschirm und verschwanden dann wieder, so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren, machten einer Landschaftsaufnahme Platz, einem Familienfoto, Fotos von ihren Schülern. Jedes Mal hinterließen die Bilder ein Gefühl des Versagens, des Verlustes, es war, als hätte sie Liebeskummer. Als hätte sie einen geliebten Menschen verloren, schlimmer: vertrieben. Ihren Verbündeten, den einzigen, auf den sie sich immer hatte verlassen können.
    Sie ließ sich in den Bahnwagen schieben, blieb in der Nähe der Tür stehen. Am Hauptbahnhof würde sich der überfüllte Zug leeren, und sie würde einen der Klappsitze zwischen den Abteilen ergattern. Am Fenster ein Kleber: «Diese Plätze sind für Behinderte reserviert.» Manchmal war Nevada froh um ihren Stock. Er nahm ihr die Erklärung ab. Dafür, dass eine junge Frau wie sie einen Sitzplatz beanspruchte. Neulich im Tram war sie laut geworden, als zwei ältere Damen sich darüber beschwert hatten, dass sie nicht aufgestanden war und ihnen Platz gemacht hatte. «Auch junge Menschen können Behinderungen haben», hatte sie gesagt. Die beiden Damen waren vor ihrem Stock zurückgewichen. Nevada tiefer in den Sitz gerutscht. Früher war sie nie laut geworden. Sie war Yogalehrerin. Ein spirituelles Vorbild.
    Auch das verdankte sie ihrer Krankheit: Diese Rolle war von ihr abgefallen. Abgefallen war das falsche Wort. Es war eher ein Schälen, sich Häuten, manchmal schmerzhaft, aber am Ende befreiend. Das ewig milde Lächeln, der ständig schiefgelegte Kopf, Floskeln wie «Es ist, was es ist» oder «Übe stetig, und der Rest wird sich geben» hatten ihr nach der Diagnose nicht weitergeholfen. Sie war wütend, verzweifelt, verbittert, voller Selbstmitleid. Warum ich?, dachte sie, warum nicht die anderen?, was habe ich falsch gemacht?, ich habe mir doch solche Mühe gegeben, alles richtig zu machen!
    Â«Ich würde mir Sorgen machen,

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