Das wahre Leben
überdrüssig geworden, als Nevada brauchte, um sich von ihrem ersten groÃen Schub zu erholen, und gerade dann, als sie ihren Neurologen besonders nötig hatte, war er nicht für sie da gewesen. Er hatte selber einen groÃen Schub zu überwinden. Beiden sah man die Spuren des ausgestandenen Kampfes an, die Erinnerung an ausgestandene Schmerzen hatte sich in ihre jeweiligen Züge eingegraben.
«Sie ist es nicht wert», wollte Nevada zu ihm sagen, aber dann siezten sie sich wieder. Nevada erwartete eigentlich von ihm, dass er es besser wusste. Dass er mehr wusste als sie.
«Marihuana kann die Anlage zur Depression verstärken», sagte er jetzt. «Das müsste man in Ihrem Fall besonders bedenken. Wie geht es Ihnen damit?»
Unwillkürlich bewegte Nevada ihre Schultern, als wollte sie das Gewicht der Decke, die auf ihnen lag, abschätzen. Sie fühlte sich leichter an als sonst.
«Nicht so schlecht, heute», sagte sie erstaunt.
Doktor Fankhauser machte sich eine Notiz. «Ist heute etwas anders als sonst?»
«Ich habe heute eine neue Klasse übernommen, die mir Spaà macht.»
«Was für eine Klasse?»
«Teenager. Schwierige Mädchen. Mädchen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen Probleme in der Schule bekommen haben. Die Yogastunde ist eine von drei Auflagen, die sie bekommen haben, sie müssen auÃerdem mit einer Sozialarbeiterin reden und Nachhilfestunden nehmen. Ein Versuchsprogramm der Schule, Ted hat es entwickelt, einer meiner Yogaschüler.»
«Das stell ich mir nicht ganz einfach vor.»
«Nein ⦠doch. Ich weià nicht.» Nevada suchte nach den richtigen Worten und fand sie nicht. Dante hat mich angesteckt, dachte sie. Es fühlte sich beinahe an, als sei er mit ihr im Behandlungszimmer. Hatte er auf demselben Stuhl gesessen wie sie?
Sie schüttelte den Kopf. «Ich kann es nicht erklären. Aber es ist spannend. Und ich freue mich auf die nächste Stunde.» Sie wusste, dass Doktor Fankhauser nicht endlos Zeit hatte, sich mit ihr zu unterhalten. Und doch hätte sie ihm gern beschrieben, wie sie sich fühlte, als die Mädchen am Ende der Stunde vor ihr saÃen, mit angestrengt geschlossenen Augen, manche blinzelnd. Keines hatte Vertrauen genug, um die Augen zu schlieÃen, und doch hatten es alle versucht. Nach nur einer Stunde.
Sie dachte an Dijana, die anschlieÃend an der Tür auf sie gewartet hatte. Ganz beiläufig hatte sie zu ihr gesagt: «Sie, Frau Nevada, meine Mutter macht auch Yoga.»
«Wie schön!» Nevada war so überrascht gewesen, dass ihr keine bessere Antwort eingefallen war. Während sie auf das Taxi warteten, das Ted bestellt hatte, erklärte er ihr: «Dijana ist wie Woody Allen in Zelig , sie nimmt die Farbe von jedem an, der neben ihr steht. Keine Ahnung, was ihre Mutter macht, aber ich glaube nicht, dass es Yoga ist. Ihrer Lehrerin hat Dijana erzählt, ihre Mutter sei Lehrerin. Keiner hat sie je gesehen, zu den Elterngesprächen kommen immer nur der Vater und der ältere Bruder, der für ihn übersetzt. Ich weià nicht, was da läuft.»
Im Taxi zum Unispital hatte sie den Ordner studiert, den Ted ihr gegeben hatte. Seine Notizen und die Gesprächsprotokolle mit Lehrerinnen und Eltern waren stichwortartig festgehalten. Zwischen den Zeilen öffnete sich ein Graben zwischen der Realität, in der Ted und Nevada lebten, und der, die die Mädchen kannten.
Nevada hatte zum ersten Mal seit langem wieder das Gefühl, ihre Arbeit sei zu etwas nütze. Beinahe fühlte sie sich ihren Schülerinnen gegenüber schuldig, die den Einzelunterricht bei ihr besuchten. Sie alle litten unter konkreten, manchmal sichtbaren Problemen. Schlafstörungen, Hitzewallungen, hoher Blutdruck, Rückenschmerzen, Stress. Das vor allem. Stress. Nevada führte mit jeder ein Vorgespräch und stellte eine passende Ãbungsreihe zusammen. Doch Woche für Woche stellte sie fest, dass die Frauen zu Hause nicht geübt hatten. Dass sie auch in ihren Stunden kaum Interesse daran zeigten, dass sie eigentlich nur kamen, um sich bei ihr zu beklagen. Sie war eine schlechtbezahlte und nicht ausgebildete Psychotherapeutin, dachte sie manchmal. Und sie ertappte sich dabei, ungeduldig zu werden, die Frauen scharf anzufahren, so wie es ihr indischer Lehrer schlieÃlich auch getan hatte. Manche kamen dann nicht wieder.
«Die Kundin ist Königin»,
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