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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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berührte Nevadas Kinn. Sie zuckte zurück. Seine Finger waren kühl, sie zitterten. Seine Augen waren dunkel. Die Iris verschwamm mit der Pupille. Nevada konnte nichts in ihnen lesen.
    Â«Du?», fragte er.
    Sie nickte. «Ich.» Sie hatte eben dasselbe gedacht: Bist du das? Kennen wir uns? Hast du auf mich gewartet? Sie riss ihren Kopf zurück und senkte den Blick auf die Zeitschrift in ihrem Schoß.
    Â«Erstens», sagte sie heftig, «erstens bin ich fast vierzig.» Das war etwas übertrieben. Sie wurde im März achtunddreißig. «Und zweitens praktiziere ich Brahmacharya. Freiwillige Enthaltsamkeit. Das heißt: kein Sex!»
    Bevor Dante etwas sagen konnte, klopfte Frau Furrer an den Rahmen der offenstehenden Tür. Sie musste die letzten Sätze gehört haben. Das letzte Wort bestimmt. Sie schaute Nevada böse an, aber das tat sie immer.
    Â«Dante, du kannst jetzt zu ihm rein», sagte sie. Ihr Blick wurde weich, als er auf dem jungen Mann ruhte, und wieder hart, sobald er Nevada streifte. Sie trat zur Seite, als Dante an ihr vorbeiging. Nevada konnte ihr ansehen, wie schwer es ihr fiel, dem jungen Mann nicht zu helfen, der mit schiefgelegtem Kopf an ihr vorbeischlurfte.
    Nevada schlug die Zeitschrift auf, die sie in der Hand hielt, las die Geschichte einer Sportlerin, die kurz nach ihrer MS-Diagnose ihren ersten Marathon gelaufen war. «Ich lasse nicht zu, dass die Krankheit mein Leben bestimmt», sagte sie im Interview. Nevada seufzte. Tut sie aber, dachte sie.
    Dann dachte sie wieder an Dante. Warum war sie so schroff gewesen? Warum hatte sie ihn zurückgewiesen? Wie oft lag sie nachts wach und weinte vor Einsamkeit, wie oft betete sie: «Bitte bitte bitte lass mich nicht allein, lass mich nicht alleine sterben, bitte bitte bitte …» Sie wusste nicht, an wen sich diese Gebete richteten. Aber wer oder was immer es war würde bald die Geduld mit ihr verlieren.
    Â 
    Â«Lassen Sie mich raten: Ihre Schwester?»
    Sie hatten wieder zum förmlichen Sie zurückgefunden, sobald die Beziehung zwischen Doktor Fankhauser und Nevadas Schwester beendet war. Es war automatisch passiert, keiner von beiden hatte darüber nachdenken müssen, eher war ihnen das familiäre Du unangenehm gewesen. Nevada wollte ihren Arzt siezen, sie wollte seine Autorität spüren, seine Macht über ihre Krankheit, seine Kenntnis aller Einzelheiten ihrer Beschwerden, sie wollte keine gleichberechtigte Beziehung. Sie wollte sich auf ihn stützen können.
    Â«Nein, das ist nicht auf Sierras Mist gewachsen, ich habe es aus dem Internet.»
    Â«Aha. Ich dachte, wir hätten eine Abmachung, was Doktor Google betrifft? Nun gut.» Fankhauser überlegte. «Ich weiß, es gibt Studien … aber, liebe Frau Marthaler, ich muss Ihnen sagen, es gibt Studien für alles. Und für das Gegenteil von allem.»
    Â«Das weiß ich. Aber wäre es nicht einen Versuch wert?»
    Â«Ehrlich gesagt, ich weiß nicht …»
    Â«Könnten Sie es mir verschaffen?»
    Fankhauser wand sich. «Frau Marthaler, Sie wissen bestimmt besser als ich, dass Marihuana in der Schweiz sehr leicht zu beschaffen ist. Warum fragen Sie nicht …»
    Â«â€¦ meine Schwester?» Nevada seufzte.
    Â«Ausgerechnet mit meinem Neurologen!», hatte sie Sierra angefahren, als ihre Affäre begann. «Ich brauche ihn doch! Meinst du wirklich, er könne uns noch auseinanderhalten? Meinst du wirklich, er würde es nicht an mir auslassen, was du ihm antust?»
    Â«Wer sagt denn, dass ich ihm etwas antue!» Sierra hatte empört reagiert, aber auch geschmeichelt. «Ich habe nicht vor, ihm etwas anzutun. Ich mag ihn, ob du’s glaubst oder nicht. Er passt zwar wirklich nicht in mein Beuteschema …»
    Â«Sag nicht ‹Beuteschema›, bitte!»
    Â«â€¦ aber er hat etwas … etwas Anrührendes. Weißt du, was ich glaube?»
    Â«Nein.»
    Sierra hatte die Stimme gesenkt: «Ich glaube, er gehört zu der raren Spezies der anständigen Männer.»
    Â«Was meinst du mit rar?»
    Â«Vom Aussterben bedroht. Mit modernen Messgeräten nicht mehr wahrnehmbar.»
    Â«Ach was. Davon gibt es jede Menge. Ich kann natürlich keine Namen nennen …»
    Â«Ach ja, ich vergaß: Das Amtsgeheimnis der Yogalehrerin!»
    Natürlich war genau das eingetreten, was Nevada befürchtet hatte: Sierra war des anständigen Mannes schneller

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