Das wahre Leben
sagte Sierra immer wieder. Und: «Ist doch easy money , was beklagst du dich?» Nevada konnte ihr ihre Frustration nicht erklären. Da saà sie auf einem unerschöpflichen Schatz, von dem sie mit beiden Händen schöpfte â doch niemand wollte etwas davon. Diese Mädchen jedoch, das spürte sie, die Mädchen würden nach ihren Geschenken greifen. Sie musste nur erst ihr Vertrauen gewinnen.
«Ich würde sagen, wir warten mit dem Antidepressivum», sagte Doktor Fankhauser. «Vom Gebrauch von Marihuana würde ich Ihnen auch eher abraten, aber wenn Sie meinen â dann versuchen Sie es. Ich glaube, was Ihnen im Moment am meisten hilft, ist diese neue Aufgabe. Dabei wären wir bei meiner nächsten Frage: Ihre Beine sind sehr viel schwächer geworden. Wenn Sie regelmäÃig quer durch die Stadt kommen wollen, brauchen Sie einen Stuhl.»
«Vielen Dank, ich sitze schon», murmelte Nevada müde. Und dann endlich spürte sie die vertraute Schwere auf sich herabsinken. Sie begrüÃte sie beinahe erleichtert.
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Ihr linker Fuà lieà sich kaum mehr aufsetzen, er weigerte sich, ihr Gewicht zu tragen. Ihre Müdigkeit war so groÃ, dass ihr die Tränen kamen. Wie in einem Traum bewegte sich der FuÃboden unter ihr, dehnte sich aus, wurde flüssig wie geschmolzener Zucker, zog sich unter ihren FüÃen zurück. Der Tag war zu lang gewesen. Zu viel war heute passiert. Zu viel Neues. Trotzdem ging sie nicht auf direktem Weg zum Lift, sondern schleppte sich auf das Wartezimmer zu, das mit jedem Schritt unerreichbarer schien. Und als sie endlich vor der halboffenen Tür stand, war es leer.
«Suchen Sie etwas?» Frau Furrer stand mit verschränkten Armen hinter ihr.
Jetzt nicht in Tränen ausbrechen, dachte Nevada. Nicht vor ihr.
«Können Sie mir ein Taxi rufen?»
Erika
1.
Am nächsten Tag schon hatte ein gehetzt klingender Mann angerufen, der dringend einen Nachmieter suchte. Am besten sofort. Plötzlich ging alles zu schnell. Erika wusste gar nicht, ob sie wirklich ausziehen wollte. Sie spielte doch nur. Wie früher als Kind, ganz für sich allein in dem groÃen Haus. Sie wickelte sich in die Stoffmuster, die überall herumlagen, und war eine Indianerprinzessin, eine Zauberkönigin, ein Waisenkind aus dem All. Sie war eine Frau, die ihren Mann verlieÃ. Eine Frau, die eine Wohnung mietete, ganz für sich allein.
Bis ihre Mutter sie zum Essen rief. Dann warf sie die Stoffbahnen ab und war wieder Niita. Nichts.
Sie hatte die S-Bahn genommen, weil sie nicht mit dem Taxi vorfahren wollte. Erika fuhr selber nicht mehr Auto. Sie wollte trinken können, wann und so viel sie wollte. Vor der S-Bahn drängten sich die Pendler, in der ersten Klasse war es leer. Ein Bildschirm zeigte die Haltestellen an. Erika lieà ihn nicht aus den Augen. Seebach! Sie fürchtete, beim Aussteigen angepöbelt zu werden, doch nichts geschah.
Erika schaute sich um. Sie hatte die Siedlung schon aus dem Zugfenster gesehen und angenommen, dass sie sich gleich hinter den Geleisen befand. Jetzt stellte sich heraus, dass sie gar nicht so einfach zu erreichen war. Sie musste ganz ans Ende des Bahnsteigs und dort durch eine Unterführung gehen. Sie würde zu spät kommen. Einen Augenblick lang zögerte sie. Was tat sie hier? Wem machte sie etwas vor? Sie würde nicht ausziehen. Sie würde Max nicht verlassen. Sie würde absagen.
Erika blieb stehen, wühlte in ihrer Beuteltasche nach dem Telefon und konnte es nicht finden. Also ging sie weiter. Am anderen Ende der Unterführung schien die Sonne. Man konnte jedes Zeichen so oder so deuten, es half nicht weiter.
Erika irrte zwischen den Blöcken herum, die alle denselben StraÃennamen trugen, obwohl es genau genommen drei kurze, parallel verlaufende StraÃen waren, an denen je sechs Blöcke standen, links und rechts. Die Nummerierung war verwirrend: 1 bis 12, 20 bis 32, 40 bis 52. Erika suchte die Nummer 21 auf der falschen Seite. Sie kippte den Inhalt ihrer Tasche auf den Boden und fand ihr Handy. Als sie die Nummer eintippte, die ihr der Mieter gegeben hatte, überfiel sie Panik. Da lag ihr getigertes Stefi-Talman-Portemonnaie offen auf dem Boden! Ihr in Leder gehülltes iPhone, ihre Schminktasche aus Aalhaut! Verstohlen schaute sie sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Aber sie wurde beobachtet, das fühlte sie. Kriminelle Elemente, dachte sie.
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