Das wahre Leben
hatte. Diese Tür führte in einen kurzen Flur, von dem noch einmal drei Türen abgingen. Badezimmer, Toilette, Schlafzimmer. Das Schlafzimmer war sehr klein. Die Matratze, die auf dem Boden lag, füllte den Raum beinahe aus. Aber eine Wand war von einem Wandschrank ausgefüllt, die andere mit raumhohen Bücherregalen, die jetzt leer standen. Erika konnte plötzlich ein Bett sehen, das anstelle der Matratze dastand, ein Bett, das sie noch nicht besaÃ, ihr erstes eigenes Bett, von bunten Buchrücken umrahmt. Sie sah sich selbst auf der weiÃen Bettdecke liegen, unter den Büchern, die nachts auf sie herunterfallen würden, ohne sie zu verletzen, wie ein sanfter Regen. Sie sah sich die Augen aufschlagen, in einem Büchermeer erwachen.
«Ich nehme es», sagte sie noch einmal.
«Nun warte doch! Das Beste hast du noch gar nicht gesehen!»
Mario schaltete das Licht aus. Auf der dunkelblau gestrichenen Zimmerdecke sah Erika blasse Sterne. Sterne, die mit Leuchtfarbe an die Zimmerdecke gemalt waren und im Dunkeln leuchten würden. Sie legte den Kopf in den Nacken. Sie kannte sich mit Sternbildern nicht aus, aber es schien ihr ein exaktes Abbild des Nachthimmels.
«Theoretisch muss ich das wieder weià streichen, wenn ich ausziehe», sagte er. «AuÃer es gefällt dir.»
«Es gefällt mir sogar sehr», sagte Erika, und zum ersten Mal lächelte Mario.
Sie setzten sich an die Küchentheke, wo Erika ihre Anmeldung ausfüllte. Während sie langsam Zeile für Zeile durchging, meist mit Strichen â Beruf? Arbeitgeber? Angestellt seit? â antwortete, erzählte Mario, was passiert war. Und warum er nicht in dieser Wohnung bleiben konnte. Es war eine konventionelle Geschichte. Das FuÃballtraining am Samstag war ausgefallen, eine halbe Stunde, nachdem er die Wohnung verlassen hatte, war er zurückgekommen, hatte sich noch gewundert, warum die Rollläden in der ganzen Wohnung heruntergelassen waren, eben hatten Samantha und er doch noch zusammen gefrühstückt, im morgendlichen Sonnenschein ⦠Vielleicht war Samantha zum Einkaufen gefahren. Oder hatte sie sich mit seiner Schwester verabredet? Vielleicht hatte sie es ihm sogar erzählt, und er hatte nicht zugehört, wieder einmal nicht zugehört, wie sie immer sagte. Noch bevor er die Wohnungstür ganz aufgeschlossen hatte, hörte er ihr Stöhnen, und das Erste, was er sah, war der nackte Hintern seines besten Freundes.
«Den hätte ich überall erkannt.»
«Oje. Das tut mir leid.»
Mario zuckte mit den Schultern. «Ich hätte es wissen müssen», sagte er. «Früher hatten wir oft Krach, vor allem, seit wir zusammengezogen waren. Immer nörgelte sie an mir herum. Ich half zu wenig im Haushalt, ich hörte nicht zu, ich lieà meine Sachen herumliegen. Um ganz ehrlich zu sein, beim Gedanken, dass das nun immer so weitergehen würde, ein Leben lang, wurde mir manchmal recht anders. Doch dann, plötzlich: nichts mehr. Keine Vorwürfe, keine Forderungen. Plötzlich war Samantha wieder die liebste Frau der Welt. Wie damals, als wir uns kennengelernt hatten. Und ich Trottel hielt das für ein gutes Zeichen! Plötzlich konnte ich mir wieder vorstellen, sie zu heiraten. Mit ihr alt zu werden. Ich habe sogar einen Ring bestellt und schon angezahlt â das Geld kann ich jetzt auch abstreichen! Heute weià ich natürlich, dass es genau dann angefangen haben muss. Es gibt eine Studie, weiÃt du: Frauen, die fremdgehen, sind ihren Männern gegenüber plötzlich wieder viel nachsichtiger. Bei Männern ist es genau umgekehrt, die kommen vom Seitensprung nach Hause und scheiÃen ihre Frauen zusammen â¦Â»
«Ach. Das wusste ich nicht!»
«Warum, war es bei dir nicht so?»
«Nein.» Erika überlegte. Wenn es stimmte, was Mario erzählte, dann musste Max fremdgehen, seit er sie kannte. Oder er hatte sie nie gemocht. Aber warum hatte er sie dann geheiratet?
«Was ist denn bei dir passiert?»
«Nichts», sagte Erika. «Ich kann einfach nicht mehr. Ich kann nicht mehr verheiratet sein. Es ist zu schwierig. Ich halte es nicht mehr aus. Ich kann nicht mehr atmen, verstehst du?»
«Nicht wirklich.» Mario runzelte die Stirn. «Das Leben ist nun mal kein Picknick», sagte er streng. «Und die Ehe erst recht nicht!»
Was du nicht sagst, dachte Erika. Was weiÃt du schon? Es erstaunte sie,
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