Das wahre Leben
hatte Nevada Mühe, ihn zu verstehen. Sie runzelte die Stirn. Chemo? Er hob eine Hand zu seinem kahlen Kopf, da verstand sie: ihr Haar.
Verlegen fuhr sie mit der Hand darüber. «Ach so, nein, das ist Absicht», sagte sie.
Der junge Mann errötete. Sein ganzer glatter Schädel verfärbte sich. «Sorry.»
«Schon gut. Es ist einfacher so. Ich habe MS.»
Er nickte. «Wie lange?»
«Wie lange was? Wie lange ich das schon habe oder wie lange ich damit noch lebe?»
Er lachte. «Sorry ⦠Dante.»
«Dante?», fragte Nevada nach.
«So heiÃe ich. Dante. Nicht â¹Hirntumorâº.»
«Ach so. Nevada.» Sie streckte ihre Hand aus. Ãber den Tisch mit den Illustrierten hinweg. Ihr Arm war zu kurz. Er stand auf und setzte sich neben sie. Er war sehr dünn. Aus der Nähe war seine Haut sehr weiÃ. Fast durchsichtig. Er setzte sich mit einem unmerklichen Seufzen nicht auf den Stuhl neben ihrem, sondern lieà einen Platz frei. Dann nahm er ihre Hand. Schüttelte sie. Lachte.
«Sehr erfreut», sagte sie förmlich. Und zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass sie es war, erfreut. Sie konnte sich kaum an das Gefühl erinnern.
«Nevada. Schöner Name. Spanisch?»
«Würdest du mir glauben, dass ich eine Schwester habe, die Sierra heiÃt?»
Er lachte. «Nein, das würde ich ⦠definitiv nicht. Sierra Nevada, hmm â¦Â»
«Und du? Sag nichts: dein Bruder heiÃt Alighieri?»
Er wurde ernst. «Ich habe keinen Bruder.»
«Entschuldige.»
Er winkte mit der Hand ab. «Lass uns die traurigen ⦠Geschichten für ⦠nächstes Mal aufheben.»
Nächstes Mal?, dachte Nevada. Laut fragte sie: «Welche Geschichten sind denn noch trauriger als unsere Diagnosen?»
«Oh, du würdest staunen â¦Â»
«Ich habe es nicht ernst gemeint.»
«Ach so.» Er schien zu überlegen. Nevada griff nach einer der Zeitschriften, die auf dem Tisch lagen. Heute hatte sie Mühe mit dem Blättern, ihre Finger schienen ihr nicht zu gehorchen. Vielleicht war sie auch nur nervös. Warum war sie plötzlich nervös?
Dante räusperte sich. «Kommst du öfter hierher?», fragte er, und Nevada lachte.
«Hey ⦠kannst du mir nicht ein bisschen ⦠entgegen ⦠kommen? Ich habe schlieÃlich einen Tumor, der auf mein Sprachâ¦zentrum drückt!»
«Ach, das ist deine Entschuldigung?» Was tat sie hier? Flirtete sie etwa? Mit einem blassen kranken und auÃerdem sehr jungen Mann?
Und wenn schon. Er schien es nicht zu merken. Eine Ernsthaftigkeit ging von ihm aus, die Nevada verwirrte. Vielleicht rührte sie nur von der Anstrengung, die richtigen Worte zu finden.
Er hatte die Holzkuh wieder in die Hand genommen und drehte sie hin und her. Als könnte sie ihm die Worte, die er suchte, einflüstern. «Und was ⦠machst du, wenn du nicht im Vorzimmer von ⦠Fanki herumhängst?»
«Fanki?»
Dante zuckte mit den Schultern. Sein bedrängtes Sprachzentrum weigerte sich wohl, das Offensichtliche zu erklären.
«Ich bin Yogalehrerin», sagte Nevada schlieÃlich.
«Yoga ⦠lehrerin? Nicht ⦠schlecht!»
«Ja, ich weiÃ.» Plötzlich hatte auch Nevada keine Lust mehr, das Offensichtliche zu erklären.
Dante lachte: «Ich ⦠bin Schriftsteller!»
Sie lachte auch. «Ein Dichter ohne Sprache, eine Yogini ohne Körper. Warum nicht!»
Dante schwieg.
Nevada wurde rot. «Tut mir leid. Ich bin sonst nicht so â ich weià nicht, ich habe irgendwie keinen Filter â¦Â»
Dante nickte. «Ich weiÃ, was du meinst. Ich bin ⦠genauso. Aber bei mir ⦠ist es der Tumor. Oder eine Metastase. Das ist ein Problem für mein Schreiben. Weil es nämlich ⦠dazu führt, dass ich nicht lügen kann. Nicht, dass ich viel â¦. gelogen hätte, aber ⦠erfinden ist manchmal ⦠auch eine Form von Lügen, und jetzt kann ich ⦠es fast gar nicht mehr, darum schreibe ich keine realistischen Sachen ⦠der Tumor ⦠scheint da auch draufzudrücken. Ist gar nicht so leicht, wenn man immer die Wahrheit sagen muss.»
«So weit ist es bei mir noch nicht.» Nevada senkte den Kopf. «Dafür lösen sich meine Nervenzellen auf.»
«Ich weià nicht, ob⦠das eine ⦠Entschuldigung ist», sagte er ernst. Er streckte seine weiÃe Hand aus und
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