Das wahre Leben
einem Moment, der ihr lange erschien, bewegte sich die Gruppe ein paar Schritte von ihrer Wohnung weg. Erika schloss das Fenster. Sie wünschte, sie hätte eine Zigarette.
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2.
Erika stand vor ihrem Kleiderschrank. Ein seltsames Gefühl überfiel sie, als sie die leeren Regalbretter sah, die verwaist dahängenden Kleiderbügel. Sie konnte es nicht gleich einordnen: Es war Freude, was sie empfand. Kindliche, kichernde, aufgeregte Freude. Sie besaà nichts mehr. Ihre teuren Designerkleider, ihre Handtaschen, ihre Schuhe und Stiefel: weg. Ein blaues Kleid hing neben einer schwarzen Jacke â die wenigen Sachen, die sie eingepackt hatte, passten nicht einmal zusammen.
Wenn Erika verreiste, stellte sie Wochen vorher eine Garderobe zusammen, die für alle Gelegenheiten und Wetterverhältnisse diente. Sie brachte Kleidungsstücke in die Reinigung und zum Abändern. Sie kaufte, was ihr fehlte, probierte alle Kombinationen vor dem Spiegel an. In ihrem Computer hatte sie Listen zusammengestellt, auf denen genau festgehalten war, was sie wo getragen hatte. Wenn sie nur das Richtige trug im richtigen Moment, wenn ihre Haare nur richtig saÃen und ihr Gesicht sich nicht bewegte, dann war alles gut. Dann konnte ihr nichts passieren. Daran glaubte Erika. Und manchmal erfüllte sich diese Hoffnung für einen Moment, und sie atmete aus. Die Regeln, nach denen sie lebte, die Regeln ihrer Kreise, waren ihr einziger Halt. Sie konnte es sich nicht leisten, sie in Frage zu stellen. Immer heftiger reagierte sie, wenn sich jemand nicht an sie hielt. Es hatte Jahre gedauert, bis sie gemerkt hatte: Es war der reine Neid.
Sie beneidete ihre Freundin Gerda um ihre Unverfrorenheit. Gerda saà mit grauen Haaren und in schwarzen Zeltkleidern am Tisch, sie beteiligte sich nicht an den Gesprächen, hatte die neuesten Romane nicht gelesen, Premieren nicht besucht. Sie brachte keine Geschenke mit, sie spielte offen mit ihrem iPhone und hielt lange Monologe über ihre Arbeit.
Sie verhielt sich wie ein Mann. Und doch wurde sie immer eingeladen. «Sie ist eben Gerda», sagte Max. Es genügte also, Gerda zu sein, um eingeladen zu werden, um geliebt, umworben, bewundert zu werden. Erika zu sein genügte nicht.
Aber Erika war nicht mehr Erika. Sie hatte ihren Computer zurückgelassen, ihr Telefon. Niemand kannte sie hier, niemand kümmerte es, wer sie war und wie sie aussah. Sie hörte leise Musik und merkte, dass sie aus ihrem eigenen Mund kam. Erika sang am frühen Morgen vor ihrem leeren Kleiderschrank. «Freedomâs just another word for nothing left to lose â¦Â» Waren ihre seltsamen Träume endlich wahr geworden?
Sie zog ein Paar Jeans an, das lockerer saÃ, als sie es in Erinnerung hatte. Vielleicht hatte sie abgenommen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt gegessen hatte. Und was. Sie wusste nur, wie viel sie trank. Solange sie den Ãberblick darüber behielt, hatte sie kein Problem. Sie zog ein weiÃes T-Shirt und eine weiÃe Bluse übereinander und stopfte beides in den Bund ihrer Jeans, um ihn auszufüllen. Die Jeans hatten weitgeschnittene Beine, Erika hatte sie im letzten Moment aus einem Plastiksack gefischt, der schon für die Kleidersammlung bereitstand. Die Jeans waren beinahe neu, doch ihr Schnitt nicht mehr modern. So etwas trug man nicht mehr. Genau deshalb hatte Erika sie eingepackt.
Sie band ihre Haare mit einem Gummiband zusammen und legte roten Lippenstift auf. Sie krempelte die Ãrmel hoch, zog die Turnschuhe an, packte Schlüssel und Portemonnaie in eine Tasche und setzte sich nach kurzem Ãberlegen eine Sonnenbrille auf.
An der Wohnungstür, an der Haustür und am Briefkasten stand bereits ihr Name. Erika Keiner. Einen Augenblick lang wünschte sich Erika, sie hätte einen falschen Namen angegeben bei der Anmeldung. Sie schloss den Briefkasten auf, er war leer. Was hatte sie erwartet? Dann trat sie vor das Haus.
Wieder dieses blubbernde Gefühl. Sie musste alles neu lernen. Jeden Schritt. Sie erfand ihr Leben neu, von einer Minute zur nächsten.
«Voll das Ghetto», hatte Suleika gestern gesagt. Doch jetzt schien die Sonne, die Wohnblöcke schimmerten blassrot wie Ferienhäuser. Tautropfen hingen in den schmalen Grasstreifen zwischen den Wegen, Kinder lachten irgendwo. Erika wanderte zwischen den Gebäuden hindurch, las die Klingelschilder. All die verschiedenen Namen! Früher oder später
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