Das wahre Leben
der Bibliothek.
Die Bücher, die ihre Mutter ihr gab, die sie selber als Kind gelesen hatte, waren grausam. Da wurden Kinder verprügelt, im Krankenhaus abgegeben und nie wieder besucht, andere starben. Sogar die Märchen waren anders in den Büchern ihrer Mutter, da wurden die Prinzessinnen nicht gerettet, es wurden ihnen die FüÃe abgehackt, ihre Hände froren ab, schreckliche Wesen packten sie in der Nacht und drückten ihnen den Hals zu.
Kein Wunder, konnte ihre Mutter nicht schlafen. Erika wollte schöne Geschichten lesen, das hatte sie der Bibliothekarin im Dorf erklärt.
«Du bist ja ein richtiger Bücherwurm», hatte diese gesagt. «Pass auf, dass du dir die Augen nicht verdirbst. Niemand will eine Brillenschlange heiraten, schau mich an!»
«Ich heirate doch gar nicht!»
Erika wollte nachts wach liegen und freundliche Bücher lesen, die die Bilder von abgehackten FüÃen aus ihrem Kopf vertrieben. Diese freundlichen Bücher stecken in ihrer Schultasche. Konnte sie aus dem Bett steigen, ohne ihre Freundin zu wecken? Sie fischte ein angelesenes Buch heraus und schlich ins Bad. Dort legte sie sich auf den flauschigen Teppich und las. So fand sie die Mutter ihrer Freundin am nächsten Morgen.
«Hier bist du also! Du hast Karin Angst gemacht!»
«Es tut mir leid», sagte Erika. Sie würde nicht wieder zum Ãbernachten eingeladen werden.
«Und warum erzählen Sie mir das?», fragte Marylou kühl, als Karins Mutter sie am nächsten Tag anrief. «Meine Tochter hat nun mal einen leichten Schlaf. Das hat sie von mir.» Erika hörte etwas Ungewohntes in der Stimme ihrer Mutter. Stolz? Sie legte den Hörer auf und schaute zu Erika herüber. «Wir sind aus demselben Holz geschnitzt, du und ich.»
Als ihre Mutter Erika als Schlaflose erkannte, wurde sie zu ihrer Verbündeten. Erika tat alles, um es ihrer Mutter recht zu machen. Als sie anfing, Schlaftabletten zu nehmen, fühlte es sich an wie Verrat. Wie eine verspätete Rebellion. Als Erika anfing, nachts zu schlafen, war sie nicht mehr wie ihre Mutter.
Jetzt waren ihr die Tabletten ausgegangen. Und ihre Mutter war tot. Ob sie schlief oder nicht, bedeutete nichts mehr.
Erika hörte Stimmen. Erst dachte sie, sie seien in ihrem Kopf. Aber sie konnte sie nicht verstehen. Normalerweise verstand sie die Stimmen in ihrem Kopf sehr gut. Doch diese Stimmen waren weder im Kopf noch im Zimmer. Sie waren drauÃen. Sie waren männlich und jung und nicht mehr nüchtern. Erika zog die Decke hoch bis unters Kinn, sie wagte nicht, das Licht einzuschalten, man könnte sie von drauÃen sehen.
So lebt die andere Hälfte, dachte sie. «Hälfte» war nicht mehr korrekt. «Die anderen neunundneunzig Prozent», hieà das heute.
«Leute leben so», hörte sie die tadelnde Stimme von Max. Und Erika hatte sich wieder geschämt. «Leute leben so», das hatte er gesagt, als sie bei Marga eingeladen waren, Maxâ Assistentin. Sie lebte in einer kleinen Wohnung in einer Ãberbauung am Rand von Linthal. Das Haus stammte aus den achtziger Jahren, es war mit verblichenen türkisfarbenen Platten bedeckt, verziert mit einem früher einmal leuchtend rosa Zickzackmuster. Auch im Treppenhaus wiederholten sich diese Muster. Es gab keinen Lift. Margas Wohnung war voller Schildkröten. Lebenden und solchen aus Plastik und Ton und Jade und Porzellan. Erika hatte sich verwundert umgeschaut, das stimmte. Aber nicht, weil sie ein Snob war, wie Max ihr unterstellte. Max hatte sie immer falsch verstanden, immer zu schnell verurteilt.
Erika hatte sich in Margas Wohnung umgeschaut und sich damals schon vorgestellt, wie es wäre, so zu leben: allein unter Schildkröten. Ohne Max.
Erika horchte in sich hinein. In ihr war es still. Sie fühlte eine seltsame Ruhe. Vielleicht hatte sie es ja genau so gewollt? Sie kannte genügend geschiedene Frauen, die in ihren Häusern geblieben waren, groÃzügig abgefunden von den Exmännern, die sich ihr neues Leben, ihr schlechtes Gewissen etwas kosten lieÃen. Doch durch diese Häuser verlief ein Sprung, nicht auf den ersten Blick sichtbar vielleicht, aber umso schmerzhafter. Erika kannte keine andere Frau, die einfach so gegangen war. Ohne Grund.
Jetzt stand sie doch auf. DrauÃen stand eine Gruppe junger Männer, die neugierig zu ihrem Fenster schauten. Erika erstarrte. Aber sie rührte sich nicht. Nach
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