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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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würde sie die Menschen kennenlernen, die zu den Namen gehörten, nicht alle, aber einige. Lauter Menschen, die nicht wussten, wer sie war und zu wem sie gehörte. Sie wünschte sich, Karin Misoto könnte sie jetzt sehen. Sie war nicht mehr die Tochter von, die Frau von, die Mutter von. Sie war niemand. Sie war nichts. Sie war alles. Sie konnte sein, wer sie wollte.
    Plötzlich rannte ihr eine Horde Kinder entgegen. Sie trugen Rucksäcke, die ihnen bis in die Kniekehlen hingen und beim Rennen auf- und abhüpften. Erika sprang zur Seite, die Kinder schrien durcheinander. Zwei Frauen kamen ihr entgegen, sie schoben Kinderwagen, trugen Kopftücher.
    Erika blieb stehen. «Entschuldigung.»
    Die beiden Frauen blieben ebenfalls stehen, die Kinderwagen nahmen die ganze Breite ein und standen nun zwischen ihnen wie eine Schranke. Erika schaute in zwei gelangweilte Kindergesichter mit bunten Schnullern. Automatisch lächelte sie die Kinder an. Das eine begann sofort zu weinen. Erika schaute die Mütter an, die sie ausdruckslos musterten.
    Â«Ich bin neu hier», sagte Erika. «Ich heiße Erika.»
    Schweigen.
    Tat man das nicht? Stellte man sich hier seinen Nachbarn nicht vor? Oder sprachen die beiden Frauen kein Deutsch? Hatte sie wieder etwas falsch gemacht?
    Sie dachte an Max, der sich überall zurechtfand, der sich mit der Stadtpräsidentin ebenso unbeschwert unterhalten konnte wie mit seinen Arbeiterinnen. Max hätte das Richtige gesagt. Aber Max war nicht hier. Erika war eine schlechtgekleidete Blondine, die junge Mütter auf der Straße ansprach. Wen kümmerte es?
    Â«Hast du Kinder?», fragte nun eine der verschleierten Frauen in breitem Ostschweizer Dialekt.
    Erika zögerte einen Augenblick zu lange mit ihrer Antwort. Ihre Antwort wäre entscheidend, verstand sie: Mütter taten sich mit Müttern zusammen, Paare mit Paaren, Kopftücher mit Kopftüchern. «Es ist kompliziert», sagte sie schließlich.
    Die andere Frau lächelte freundlich. «Willkommen», sagte sie leise. Dann teilte sich die Kinderwagenschranke, die unterdessen ungeduldig quengelnden Kinder wurden links und rechts an Erika vorbeigeschoben.
    Sie betrat einen kleinen Gemischtwarenladen, in dem man alles finden konnte, was man beim Großeinkauf vergessen hatte. Sie nahm einen Plastikkorb und ging an den Regalen entlang. Sie hatte nichts. Grundnahrungsmittel, Putzmittel, Waschmittel, Toilettenpapier. Sie musste einen Großeinkauf machen. Sie stellte die Putzmittel wieder zurück. Und legte sie schuldbewusst wieder in ihr Körbchen, nur um zu merken, dass es ihr schnell zu schwer wurde.
    Â«Unter uns gesagt: Bei Aldi drüben ist alles billiger», murmelte eine junge Verkäuferin in einer roten Schürze.
    Â«Ich bin erst gestern eingezogen», sagte Erika. «Ich habe nichts.»
    Â«Hm.» Die junge Frau musterte sie prüfend. «Lebst du allein?»
    Sah man ihr das an? Erika nickte.
    Â«Meld dich doch gleich im Ärztezentrum an. Frau Leibundgut kümmert sich um dich. Wenn sie keine Zeit hat, frag nach Doktor Lukas.»
    Ã„rztehaus? Sah sie krank aus? Lukas, klang es in Erika nach. In einer ihrer WGs hatte ein Lukas gewohnt. Sie hatte erst nach Monaten gemerkt, dass Lukas sein Nachname war. An seinen Vornamen konnte sie sich bis heute nicht erinnern. Aber hatte er nicht Medizin studiert?
    Â«Unten im Ärztehaus ist auch das Café Migräne, wenn du Anschluss suchst …»
    Â«Anschluss?» Erika wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie fragte sich, wie sie auf die junge Frau wirkte. Wie ein Flüchtling? Was bildet die sich ein, dachte sie, was meint die, wer sie ist? Mich einfach so zu duzen, diese kleine Verkäuferin, die … Sie wollte sich schon abwenden, da fiel es ihr wieder ein: Das war nicht mehr sie. Sie wollte sich neu erfinden. Niemand wusste, wer sie war, am wenigsten sie selber.
    Â«Ich fange ein neues Leben an», sagte sie.
    Die Verkäuferin nickte. «Tut mir leid, dass ich dich einfach angesprochen habe. Du erinnerst mich ein wenig an meine Mutter, weißt du, nicht äußerlich, nur in der Art, irgendwie … Und da dachte ich …»
    Â«Ist schon gut.» Jetzt lächelte Erika sogar. Es war gar nicht so schwierig. Jemand anderes zu sein.
    Â«Ich heiße Anna», sagte die Verkäuferin und zeigte auf das Namensschild an ihrer Brust.
    Erika zögerte einen Moment. «Erika.»

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