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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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können Sie nicht leben», hatte Fankhauser gesagt. «Die Krankheit gehört nun zu Ihnen. Sie müssen sich mit ihr arrangieren. Sie verläuft nicht akut, sie darf auch in Ihrem Kopf nicht akut sein, sie darf Ihr Leben nicht beherrschen.»
    Nevada wünschte sich manchmal eine andere Krankheit, einen seltenen Krebs zum Beispiel. Mit einem Krebs musste man sich nicht arrangieren, im Gegenteil, es wurde erwartet, dass man ihn mit allem, was man hatte, bekämpfte. Dass man sich in die Schlacht warf und nicht aufgab, bis einer von beiden gewonnen hatte.
    Â«Du könntest dir auch wünschen, gar nichts zu haben», hatte Sierra gesagt. «Gesund zu sein. Das wär doch auch was!»
    Daran hatte sie gar nicht gedacht. Es war die alte Fangfrage: «Wärst du lieber reich und krank oder arm und gesund?» Die Alternative reich und gesund, der einzige ehrliche Wunsch, stand leider nie auf der Auswahlliste.

 
    Â 
    Â 
    Om Panchaka Namah.
    In ihrem Bauch loderte ein Feuer,
    gleißend hell und gleichmäßig. Mit beiden Händen
    schaufelte sie Müll in den Schlund des Ofens.
    Schwarzer Rauch stieg auf. Ich grüße das Feuer,
    das alles verbrennt, was mich behindert.
    Ich grüße das Feuer, das in meinem Bauch brennt.

Erika
1.
    Erika wachte auf und wusste nicht, wo sie war. Es war Nacht, aber hell. Sie tastete nach der Nachttischlampe, aber da war keine. Ihre Hand berührte die kalte Wand. Sie schreckte auf. Ein dicker Mond sah aus, als bückte er sich, um zu ihr hereinzuschauen. Er war so groß, dass er das kleine Fenster fast ausfüllte. Erika wollte aufstehen, um den Rollladen herunterzulassen. Doch sie traute sich nicht. Sie trug nur ein T-Shirt, das knapp ihren Po bedeckte. Direkt vor ihrem Fenster führte ein Weg durch die Siedlung. Sie fragte sich, wie der volle Mond so flach am Nachthimmel hängen konnte, dass er ein Fenster im Erdgeschoss ausfüllte. Und kam zu dem Schluss, dass es nicht möglich war.
    Erika konnte nicht mehr einschlafen. Sie hatte vergessen, die Tabletten, die sie seit fast zwanzig Jahren nahm, einzupacken. Wie hatte ihr das passieren können? Sie musste sich ein neues Rezept verschaffen. Sie musste einen neuen Arzt finden.
    Erika hatte schon als Kind schlecht geschlafen, wie ihre Mutter. Marylou prahlte gern mit ihrer Schlaflosigkeit, als sei sie ein Zeichen besonderer Vornehmheit. «Der Schlaf der Gerechten», sagte sie immer, «ist in Wirklichkeit der Schlaf der Dummen. Selig sind die geistig Armen – und ausgeschlafen!» Ein raffiniertes und hochsensibles Gemüt wie das ihre konnte sich nicht so einfach ausschalten.
    Deshalb hatte es Erika als Kind nicht gekümmert, nachts wach zu sein, durch das große Haus zu schleichen, die verbotenen Zimmer zu besuchen (die Küche! Die Vorratskammer! Vaters Arbeitszimmer!). Sie aß gemahlene Haselnüsse, die die Köchin zum Backen brauchte. Kochschokolade. Sie hatten nichts im Haus, das ein Kind mitten in der Nacht trösten könnte. Nur teilentrahmte Milch und bitteres französisches Kakaopulver. Im Atelier ihres Vaters fand Erika angefangene Skizzen. Fruchtschalen, griechische Götter, Entwürfe von Kleidern.
    Nie begegnete sie nachts ihrer Mutter. Doch sie wusste, dass sie wach war, irgendwo. Es wäre nicht gut, wenn sie Erika dabei erwischen würde, wie sie auf dem alten Gasherd Butter und Zucker schmolz und die bräunliche Mischung mit dem Löffel direkt aus der Pfanne kratzte. Oder wie sie unter Vaters Schreibtisch saß und die Skizzen der halbnackten Götter studierte. Die Angst, erwischt zu werden, mischte sich mit dem Unbehagen, das diese Skizzen in ihr auslösten, und mit dem Geschmack des verbrannten Zuckers auf ihrer Zunge. Alles zusammen fühlte sich so gefährlich an, dass sie manchmal nicht mehr atmen konnte.
    Erika war in der zweiten oder dritten Klasse, als ihr bewusst wurde, dass nicht alle Menschen nachts wach lagen. Sie hatte bei einer Freundin übernachtet und gesehen, wie sie nach dem Gutenachtkuss ihrer Mutter das Licht löschte, sich zur Seite drehte und sofort einschlief.
    Â«Schwatzt aber nicht zu lange», hatte die Mutter noch gesagt. «Ihr müsst morgen wieder in die Schule.» Erikas Freundin hatte müde gekichert und sich umgedreht.
    Â«Bist du noch wach?»
    Nichts. Erika starrte ins Dunkel. Sie wagte nicht, ein Licht anzuzünden und zu lesen. In ihrer Schultasche hatte sie zwei Bücher aus

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