Das wahre Leben
Beinahe hätte sie «Niita» gesagt.
Dann rief jemand aus dem vorderen Teil des Ladens «Hallo?», und die Verkäuferin eilte zur Kasse. Erika schaute auf den halbgefüllten Einkaufskorb an ihrem Arm. Sie legte eine Flasche Wodka und zwei Flaschen WeiÃwein hinein. Nun hing er richtig schwer am Arm.
Liquid Lunch, dachte sie. Aber irgendwann würde sie essen müssen. Worauf hatte sie Lust? Sie hatte keine Ahnung. Erika konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt genau das gegessen hatte, worauf sie Lust hatte, und genau dann, wenn sie Lust darauf verspürte. «Wer kann das schon?», hörte sie die Stimme von Max in ihrem Kopf. «Die meisten Menschen auf dieser Welt sind froh, wenn sie überhaupt etwas zu essen haben.»
Erika schüttelte den Kopf und legte ihn schief, als könne sie die Stimme von Max aus ihrem Ohr schütteln wie Wasser nach dem Schwimmen. Erika erinnerte sich an die junge Frau, mit der sie im Traum den Einkaufswagen getauscht hatte. Und wie glücklich sie das gemacht hatte. Sie füllte den Rest des Korbs mit Dingen, die sie in ihrem ganzen Leben noch nie gekauft hatte. Eine Plastiktüte voller Berliner, Chips mit Pizzageschmack, gefrorene panierte Mozzarellastäbchen.
Anna tippte alles ungerührt in die Kasse. Wie um sie zu testen, verlangte Erika nach einer Stange Zigaretten. Sie konnte nicht glauben, wie teuer das Rauchen geworden war.
«Und ein Feuerzeug, bitte.» Sie lieà sich eine groÃe Tasche geben und bezahlte alles mit der Kreditkarte.
«Ich hab in einer Stunde Pause», sagte Anna. «Wenn du magst, können wir in der Migräne einen Kaffee trinken.»
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Erika ging über den Platz. Plötzlich hatte sie Hunger. Sie setzte sich auf eine Bank, stellte die Tasche neben sich und nahm die Tüte mit den Berlinern heraus. Sie waren nicht ganz frisch, kalt, schwer und klebrig. Erika biss in einen hinein. Dunkelrote Himbeerkonfitüre tropfte auf ihre weiÃe Bluse. Aber es schmeckte gut. Klebrig und süÃ. Sie aà zwei Berliner, wischte sich den Mund mit den Händen ab, die Hände an der Hose. Ãberall Zuckerkrümel. Sie knirschten zwischen ihren Zähnen. Erika aà nicht viel SüÃes. Alkoholiker aÃen selten SüÃes, das hatte sie einmal irgendwo gelesen, sie nahmen so viel Zucker in flüssiger Form zu sich, dass es sie eher nach Salzigem gelüstete. Geht mir genauso, hatte Erika gedacht und dann: HeiÃt das, dass ich eine Alkoholikerin bin? Sie trank schlieÃlich nicht, um sich zu betrinken, um die Kontrolle aufzugeben. Im Gegenteil, sie trank, um ihren Alltag zu bewältigen, den Ãberblick zu bewahren, um die Realität auszuhalten. Sie trank, um mit anderen reden zu können. Nüchtern, normal, handlungsfähig fühlte sie sich nur, wenn sie etwas getrunken hatte. Nicht zu viel. Nur ein bisschen. Sie musste überall eine Flasche bereitstehen haben, jederzeit einen Schluck nehmen können. Auch wenn sie es dann gar nicht tat. Es war alles eine Frage des MaÃhaltens. Seit ihren frühesten Modeltagen hatte sie immer eine Flasche dabei. Nur für den Fall, dass der Tag über ihr einstürzte.
Als Erika sechzehn war, so alt wie Suleika jetzt, war sie von einem Model-Scout entdeckt worden. Allerdings nicht, als sie sich am Bahnhofskiosk ein Eis kaufte, wie später in Artikeln über sie geschrieben wurde, sondern bei sich zu Hause. Am Mittagstisch. Ihre Mutter hatte den Herrn eingeladen, der ihr offenbar noch einen Gefallen schuldete. Es musste mit Erikas Vater zu tun haben. Georg Keiner, der sich Georges nannte, war nur noch selten zu Hause â oder in der Fabrik. Er hatte damit begonnen, bildende Künstler anzuheuern, die Stoffmuster für ihn entwarfen. Er verbrachte viel Zeit in New York, London, Berlin, um diese Künstler aufzuspüren und zu überzeugen. Monatelang war er weg. Wenn er nach Hause kam, war er müde. Dann wurde er krank. Die Stoffkunstwerke erregten groÃes Aufsehen. Trotzdem verkauften sie sich schlecht. Meist wurden sie zu Foulards verarbeitet, die am Ende zu teuer waren, um eine genügend groÃe Abnehmerschaft zu finden. Erikas Mutter verfiel in ihrer Verzweiflung auf die einzige Einnahmequelle, die sie noch hatte: ihre schöne Tochter. Erikas Einnahmen, die bis zu ihrer Volljährigkeit von ihrer Mutter verwaltet wurden, retteten die Fabrik.
Das waren Erikas besten Jahre gewesen. Von sechzehn bis
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