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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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einundzwanzig. Zumindest, was ihre Einnahmen betraf.
    Georges Keiner war von seinen Reisen krank zurückgekehrt. Er verbrachte seine letzten Jahre in seinem abgedunkelten Atelier, immer häufiger im Spitalzimmer. Er starb schließlich an einer Lungenentzündung. Erika hatte damals nicht verstanden, was das bedeutete. Bis einer am WG-Tisch nachfragte: «Lungenentzündung oder ‹Lungenentzündung›?» Es musste Lukas gewesen sein, der Medizinstudent. Er malte die Anführungs- und Schlusszeichen mit den Fingern in die Luft. Als Erika nicht gleich verstand, schob er die Teller zur Seite und breitete die Zeitungen der letzten Tage auf dem Tisch aus. In den Todesanzeigen waren einige Männer noch jung an Lungenentzündung gestorben. Lungenentzündung bedeutete AIDS.
    Â«War dein Vater etwa schwul?», fragte eine der Frauen.
    Â«Was ist denn das für ein saudoofes bourgeoises Vorurteil?», fuhr Lukas sie an. «Schon mal was von heterosexueller Ansteckung gehört? Von infizierten Spritzen, von verseuchten Bluttransfusionen?»
    Â«Na ja, ein Junkie war er ja wohl nicht, der Herr Fabrikdirektor.»
    Damals gehörte es zum guten Ton, seine bürgerliche Herkunft zu vertuschen. Auch das hatte Erika zu spät verstanden. Sie war nicht die einzige Direktorentochter am Tisch, aber die Einzige, die es immer zugegeben hatte. Eingestanden wie ein Verbrechen. Die anderen waren alle in einfachsten Verhältnissen, wenn nicht in der Gosse groß geworden. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis sie sich an ihre Herkunft erinnerten, an ihre Erbschaften und Verpflichtungen, die Kanzleien und Immobilien, die nur darauf warteten, von ihnen übernommen zu werden.
    Erika hatte die Tageszeitungen sorgfältig zusammengefaltet. «Nein», hatte sie gesagt, «ein Junkie war er nicht.»
    Ihr Vater war schwul. Obwohl sie den Gedanken nie vorher ausgesprochen, nicht einmal bewusst gedacht hatte, schien es ihr jetzt, als sei er immer schon da gewesen. Plötzlich konnte sie das Bild, das sie immer so verwirrt hatte, vervollständigen. Das Bild ihrer Eltern. Es hatte nie einen Sinn ergeben – der kalte Hass ihrer Mutter, die Lebenslust ihres Vaters, unterbrochen von Abstürzen, Schuldgefühlen, Tränen. Die jungen Männer, die in seinem Atelier ein und aus gingen. Seine langen Reisen. Und auch die Art, wie er in den Stoffen schwelgte? Sich vor dem Spiegel in seine eigenen Entwürfe hüllte?
    Â«Er ist halt ein Künstler», hatte ihre Mutter immer gesagt. «Mein Mann ist ein Künstler.» Erika hatte die Verbitterung in ihren Worten nicht verstanden. Die Anführungszeichen um das Wort Künstler nicht gehört.
    Warum war ihre Mutter verheiratet geblieben? Erika hatte sie nie gefragt. Sie wusste es auch so: wegen der Fabrik. Wegen des Geldes. Des Ansehens. Marie-Louise Schweizer, Tochter eines Arbeiters, hatte sich als Marylou Keiner, Fabrikbesitzerin, neu erfunden. Erika hatte ihre Mutter nie darauf angesprochen, weil sie wusste, was ihre Mutter ihr vorwerfen würde: «Deinetwegen! Nur deinetwegen habe ich es ausgehalten!»
    Wenn man Marylou zuhörte, konnte man meinen, sie habe ihr ganzes Leben nach Erika ausgerichtet. Für Erika fühlte es sich eher so an, als trage sie das ganze Gewicht der enttäuschten Hoffnungen ihrer Mutter auf dem Buckel. Neben dem ihres eigenen Versagens.
    Marylou war letztes Jahr gestorben, sehr plötzlich. Erika hatte die Fabrik geerbt. Doch Max’ Position war bis zu seinem Tod gesichert. Unabhängig davon, ob er mit Erika verheiratet blieb oder nicht. Ihre Mutter hatte ihre Zweifel an Erikas Ehe in ihrem Testament festgehalten. Ihre Zweifel an Erika. Mit ihrem Testament hatte Marylou auch die größte Frage ausgeräumt, die Erika sich immer dann stellte, wenn sie daran dachte, sich von Max zu trennen: «Was wird dann aus der Fabrik?»
    Erika zog ihre Bluse aus und benutzte sie als Serviette. Das T-Shirt war noch sauber. Sie zog die Blusenärmel durch die Gürtelschlaufen und knüpfte sie vor dem Bauch zusammen. Dann hob sie ihre Tasche auf und ging quer über den Rasen auf das Ärztehaus zu. In einer Fensterscheibe sah sie eine Frau gespiegelt.
    Als sie die Tür zum Café Migräne aufstieß, überfiel sie ihre alte Unsicherheit. Doch das Café war leer, bis auf eine dicke, dunkelhäutige Frau mit einem enganliegenden Kopftuch, die die Vitrine hinter der Theke mit

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