Das wahre Leben
aber sie trauten dem nicht.
Â
«Was ich nicht verstehe», sagte Nevada jetzt. «Ich verstehe nicht, warum Elma angezeigt werden soll, wenn sie es ist, die im Spital liegt.»
«Na ja, weil Sie halt den Hintergrund nicht kennen, Frau ⦠äh â¦Â»
«Marthaler.»
Von Ted wusste sie, dass Frau Rothenbühler dem gesamten Projekt, vor allem aber der Einbeziehung einer Yogalehrerin, kritisch gegenüberstand. Im ursprünglichen Konzept war eine Wen-Do-Lehrerin vorgesehen gewesen. Frau Rothenbühler hatte sie empfohlen. Eine Freundin von ihr. Doch diese hatte nach einer Stunde das Handtuch geworfen. Sie war mit den Mädchen nicht fertig geworden. Frau Rothenbühler fand es schwierig zu verstehen, dass Nevada selbst vom Rollstuhl aus besser mit ihnen zurechtkam als ihre Freundin.
«Bei Jungen haben wir die Null-Toleranz-Regel für Gewalt. Und Elma ist schon zweimal mit Ãbergriffen davongekommen, weil sie ein Mädchen ist.»
«Das hat doch nichts damit zu tun», verteidigte sich Ted. «Elma ist beide Male provoziert worden. Das steht alles in den Unterlagen.»
«Ich sehe leider auch keinen anderen Weg, als die Jugendanwaltschaft zu informieren.» Frau Siebenthaler blickte entschuldigend von Frau Rothenbühler zu Ted.
«Haben Denizâ Eltern denn überhaupt Anzeige erstattet? Hat jemand mit ihnen gesprochen?», fragte Nevada.
«Ich ⦠nein, das ist aber auch nicht meine Aufgabe.» Frau Siebenthalers Augen bewegten sich jetzt schneller um den Tisch herum. Hilfesuchend.
«Meine Damen.» Ted hob beide Hände. «Ich wollte eben vorschlagen, dass wir uns erst einmal mit den beiden Mädchen zusammensetzen, dann mit ihren Eltern. Wir haben ganz offensichtlich noch nicht alle Informationen, die wir brauchen, um weitere Entscheidungen zu treffen.»
Und das von einem Mann, dessen Hände nicht bis zum Boden reichten, dachte Nevada. Und sie fragte sich, nicht zum ersten Mal, was sie wirklich über jemanden wissen konnte, den sie nur aus der Yogastunde kannte. «Weià man denn, worum es bei dem Streit ging? Ich habe gehört, dass Elma lesbisch ist, vielleicht wurde sie deshalb provoziert?»
«Liebe Frau â¦Â» Rothenbühler seufzte.
«⦠Marthaler.» Nevada hatte sich ihr mit Vornamen vorgestellt. SchlieÃlich duzte sie Ted, und Ted duzte die beiden Frauen. Doch diese blieben hart. Sie nannten sie konsequent «Frau â¦Â»
«Marthaler. Ja. Es ist offensichtlich, dass Sie kein Verständnis für die kulturell-sozialen Zusammenhänge haben, aus denen Elma und Deniz stammen. Und es sprengt den Rahmen dieser Sitzung, Sie aufzuklären. Elma und Deniz sind Musliminnen, verstehen Sie? Der Islam hat sehr strenge Vorschriften, was die Sexualität angeht. Homosexualität ist in dieser Gesellschaft ein Riesentabu. Da können Sie nicht mit Ihren Hippieideen von freier Liebe einfahren.»
«Renate, es gibt keinen Grund, Nevada anzugreifen», sagte Ted freundlich.
«Anzugreifen? Wer greift hier wen an? Ich habe doch nur das Offensichtliche ausgesprochen. Ehrlich gesagt, weià ich nicht mal, was Frau ⦠Marthaler hier macht, warum sie an dieser Sitzung teilnimmt. Wir kämen definitiv schneller zu einem Ergebnis, wenn wir wenigstens alle auf demselben Wissensstand wären.»
«Immerhin weià ich, wie alt Elma ist», sagte Nevada patzig und bereute es gleich.
«Sehen Sie, das ist einfach typisch für Leute wie Sie, mit Ihren abgehobenen Ideen hierherzukommen und sich als Wohltäterin aufzuspielen. Meinen Sie, dass Sie hier die Erste sind? Yoga ist bessere Gymnastik, etwas für gelangweilte Frauen, machen wir uns da nichts vor. In diesem Projekt, wenn es ein solches Projekt schon braucht, muss es darum gehen, die Herkunft der Mädchen zu respektieren, innerhalb ihrer Kultur zu agieren. Sie trampeln hier durch wie â¦Â»
«Ich rolle hier nur durch», sagte Nevada. «Ich wünschte, ich könnte noch trampeln.»
Darauf konnte Frau Rothenbühler nichts mehr entgegnen, und Nevada schämte sich noch mehr. Die Behindertenkarte zu ziehen, das war eigentlich unter ihrer Würde.
Â
Erst als sie an diesem Abend nach Hause kam, wurde ihr bewusst, dass sie den ganzen Tag nicht über sich nachgedacht hatte. Nicht über ihre Krankheit. Nicht über ihre Symptome. Nicht darüber, ob sie einen neuen Schub hatte oder nur einen schlechten Tag.
«So
Weitere Kostenlose Bücher