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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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sorry – Sportkollegen, Selbsthilfegruppen, gebrauchte Möbel, Dienstleistungen … Machen Sie Yoga? Sie sehen aus, als würden Sie Yoga machen. Wir haben eine eigene Yogalehrerin hier. Und ein Meditationszentrum.» Der Lift hielt, Doktor Leibundgut ging voraus. «Und hier oben sind unsere Praxisräume. Wir haben großes Glück, dass wir von der Stadt recht großzügig unterstützt werden, unsere Siedlung ist ja eine Art Pilotprojekt für die urbane Gemeinschaft, aber das wissen Sie ja bestimmt schon alles.»
    Â«Nein. Ich bin ziemlich überstürzt umgezogen», murmelte Erika.
    Â«Wir haben sogar ein Geburtshaus – sorry, irgendwie komme ich heute immer auf das Thema Kinder. Das kann für Sie nicht einfach sein.»
    Erika seufzte. «Ich habe eine Tochter», sagte sie. «Sie ist sechzehn. Und sie will bei ihrem Vater wohnen bleiben. Wir haben nicht das beste Verhältnis.»
    Doktor Leibundgut nickte. «Das kann nicht einfach sein», wiederholte sie.
    Auch hier war der Eingangsbereich mit zusammengewürfelten Möbeln und Kinderspielsachen übersät. Eine etwas abgehetzt wirkende ältere Frau in einem weißen Kittel winkte. «Frau Doktor, Sie sind spät dran! Frau Zdronjic wartet schon im Untersuchungszimmer eins, Herr Nemeck ist im Röntgen, und Ihr Mann hat auch schon zweimal angerufen.»
    Doktor Leibundgut lachte. «Er ist heute Morgen mit den Kindern allein. Na gut, ich muss los, hat mich gefreut, sie kennenzulernen, Frau …?»
    Â«Erika», sagte Erika. Wenn sie es noch oft wiederholte, würde sie es am Ende selber glauben.
    Â 
    Erika schaute auf die Uhr, sie hatte immer noch zwanzig Minuten Zeit, bis sie Anna treffen würde. Der Morgen schien sich endlos vor ihr auszudehnen. Sie hatte keine To-do-Liste mehr, hatte sie mitsamt ihrem Laptop am Zürichberg zurückgelassen. Sie wusste nicht einmal mehr, was darauf stand. Jeden Tag hatte sie zwanzig, dreißig Punkte abgehakt. Und hatte doch am Ende nichts vorzuweisen gehabt. Nichts von dem, was ihr Leben ausgefüllt hatte, war von Bedeutung gewesen. Nichts war geblieben.
    Sie fuhr mit dem Lift ins Café hinunter. Es hatte sich gefüllt. An einem großen Tisch in der Ecke saßen junge Mütter mit sehr kleinen Kindern. Zwei alte Männer spielten Schach. Ein gefährlich aussehendes junges Mädchen schob eine Frau im Rollstuhl herein. Das Mädchen war dick. Nicht ganz so dick wie Suleika, dachte Erika. Aber beinahe. Doch dieses Mädchen trug ihr Fett mit einem gewissen Stolz. Wie die Rüstung einer Kriegerin. Dieses Mädchen würde sich nicht so leicht beiseiteschieben lassen.
    Erika ging zur Theke und bestellte sich einen Latte macchiato. Aus der Nähe konnte Erika sehen, dass die Frau hinter der Theke keine Augenbrauen hatte. Keine Wimpern. «Ich heiße Erika», sagte sie. Sich neu zu erfinden war gar nicht so einfach. Sie hätte sich besser schon vorher überlegt, wer sie sein wollte.
    Â«Ich heiße Meri.» Die Frau lächelte. Sie schob einen Finger unter ihr Tuch. Sie schwitzte. Erika beobachtete, ob sie den Finger an einer Serviette abwischen würde oder nicht, bevor sie Erikas Kaffee zubereitete. Sie wollte etwas sagen, dann hielt sie inne. Nur weil sie immer noch Erika hieß, musste sie sich nicht wie Erika verhalten. Sie konnte sich in jedem Moment neu entscheiden.
    Sie nahm ihren Kaffee entgegen und setzte sich an einen Tisch am Fenster. Sie stellte ihre Tüte unter ihren Stuhl und fühlte das kühle Gewicht der Flaschen zwischen ihren Füßen. Sie fragte sich, ob sie noch einen Berliner essen sollte, aber dann dachte sie an die Teigtaschen, die Meri so sorgfältig ausgelegt hatte, und ließ es bleiben.
    Die Eingangshalle des Ärztehauses erinnerte Erika an das Kinderparadies in einem Warenhaus. Als Suleika klein war, hatte Erika sie regelmäßig dort abgegeben. Die Kinderbetreuung war für eine Stunde oder zwei gedacht, während die Mutter in Ruhe einkaufte. Doch Erika setzte sich ganze Tage lang ab, ging ins Kino, einkaufen, essen, traf sich mit ihren Freundinnen. Wenn sie zurückkam, kaufte sie am Eingang ein Parfüm oder einen Regenschirm, ließ sich eine große Einkaufstüte geben und eilte nach oben, um ihr Kind auszulösen. Sie musste die Warenhäuser häufig wechseln, sie hatte ein System gehabt. Erika war eine schlechte Mutter, das wusste sie. Das hatte sie immer

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