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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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kann ich Ihnen sagen, dass Frau Furrer durchaus urteilt.»
    Â«Nein», sagte Doktor Fankhauser leise. «Nein, Nevada, ich rede nicht über Ihre Schwester, Herrgott noch mal.» Nevada glaubte, Verzweiflung in seiner Stimme zu hören. «Ich rede über Sie, Nevada. Über Sie und über Dante.»
    Â«Dante», wiederholte Nevada, als sei jeder Vorwand recht, seinen Namen auszusprechen.
    Â«Ja, über Dante und Sie und Ihre neuen Symptome. Sie haben keinen Schub, Nevada.» Doktor Fankhauser nahm seine Brille ab und putzte sie. Seine nackten Augen glänzten.
    Â«Was dann?»
    Â«Sie sind verliebt.»
    Â«Ach.» Sie hatte das manchmal schier unerträgliche Summen unter ihrer Haut, das Ziehen in ihrer Brust, das Flattern im Bauch für einen Schub gehalten, für eine neue Schikane ihrer Nervenzellen. Beinahe wünschte sie, sie hätte recht behalten.
    Â«Und jetzt? Was soll ich denn jetzt tun?»
    Der Arzt beugte sich vor. Sein Blick war, dachte Nevada, väterlich. Nicht dass ihr eigener Vater sie je so angeschaut hätte. Sie wollte nicht an ihren Vater denken. Nicht jetzt, und überhaupt nicht.
    Â«Genießen Sie es.» Doktor Fankhauser klappte ihre Akte zu. Sie war entlassen.
    Â 
    Verliebt, dachte Nevada, was sollte das heißen? Es hieß, dass sie auf dem Weg zum Lift am Wartezimmer vorbeirollte. Doch das Wartezimmer war leer. Warum hatte er den Termin vor ihrem verlangt, wenn nicht, um auf sie zu warten? Vielleicht hatte ihm Frau Furrer gut zugeredet: «Vergiss sie, Dante. Die Marthaler-Schwestern bringen nur Unglück. Du könntest jede haben, mit oder ohne Hirntumor, was willst du mit einer Behinderten, die außerdem fast deine Mutter sein könnte?»
    Plötzlich war auch das Vorwärtsbewegen des Rollstuhls zu viel. Sogar das aufrechte Sitzen strengte sie an. Nevada wollte sich aus dem Stuhl fallen lassen, sich am Boden zusammenrollen und nie mehr aufstehen. Nur die Vorstellung, dass Frau Furrer sie finden würde, hielt sie davon ab. Der Flur schien sich endlos vor ihr auszudehnen. Meter für Meter schob sie sich voran. Vor dem Ausgang warteten Taxis. Doch der Ausgang war weit weg. Sie konnte weder Sierra anrufen noch Frau Furrer um Hilfe bitten. Ganz am Ende des Flurs meinte sie das rote Licht an der Lifttür leuchten zu sehen. Wie ein Leuchtturm in der dunkelsten Nacht. Es schien nicht näher zu kommen. Die Vorstellung, sich in eine volle Kabine zu schieben, in der ihr nur widerwillig Platz gemacht wurde, war zu viel für Nevada. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie wollte weinen, aber auch das war zu viel.
    Â«Scheißdiagnose», murmelte sie. Verliebt zu sein machte das Leben nicht einfacher. «Komm, einen Meter schaffst du noch», redete sie sich zu. Seit wann war dieser blöde Stuhl so schwer? Musste sie ihn schon gegen ein elektrisch betriebenes Modell eintauschen? Noch bevor Sierra diesen hier mit Fransen und Nieten geschmückt hatte? «Noch einen Meter, nur noch einen …»
    Schließlich stand sie vor dem Lift. Das Licht blinkte, sie hörte, wie sich die Kabine ruckelnd näherte. Sie musste sich also nicht verrenken, um den Knopf zu erreichen. Sei dankbar für die kleinen Gnaden, dachte sie. Auch das hatte die Krankheit sie gelehrt. Nicht nur, dass der Alltag voller Hürden war, die sie nie wahrgenommen hatte, sondern auch voller kleiner Gnaden. Wenn sie nachts wach lag, zählte sie sie. Sie konnte dann besser schlafen. Die Kabine hielt direkt vor ihr, Nevada zog die Nase hoch, ihr Gesicht war nass, hatte sie etwa doch geweint? Oder war sie von der Anstrengung durchgeschwitzt? Zischend öffnete sich die Tür. Nevada hob das Kinn, gerüstet, gewappnet, bereit: Da stand Dante vor ihr. Er hielt einen mickrigen Strauß in der Hand, drei rote Rosen, zwei Farnblätter, viel Zellophan, und war außer Atem.
    Â«Scheiße, ich dachte … schon, ich hätte dich … verpasst!», rief er. Er ließ die müden Blumen fallen, streckte beide Arme nach ihr aus, zog sie in die Kabine, zog sie aus dem Stuhl, zog sie an sich. Seine Lippen waren auf ihren, sie rochen unerwartet nach Zigarettenrauch und Bier und etwas anderem, vielleicht Zimt. Nevada öffnete den Mund, ein Seufzer drängte heraus. Solche Erleichterung. «Endlich», seufzte sie, «endlich.»
    Sofort ließ er sie wieder los. Sie fiel zurück, landete unsanft in ihrem Stuhl. Er bückte sich nach

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