Das wahre Leben
nicht sah, wenn er das Gebäude verlieÃ, ohne noch einmal mit ihr zu sprechen?
Was, wenn er sie in ihrem Urin sitzend antraf?
Â
«Wie kommen Sie mit dem Stuhl zurecht?»
«Ganz gut. Ich brauch ihn nicht mal jeden Tag.» Tatsächlich, manchmal schien das Wissen, dass er für den Notfall da war, zu genügen.
«Das sehe ich immer wieder», bestätigte Doktor Fankhauser. «Aber es hält meist nicht an, jedenfalls nicht allzu lange. Und sonst?»
«Sagen Sie es mir.»
Fankhauser hatte die Ergebnisse ihres letzten MRIs vor sich liegen. Er wusste, ob sie wieder einen Schub hatte oder nicht. Nevada hatte in den aufmunternden Magazinen im Wartezimmer von Patienten gelesen, bei denen die Schübe zehn Jahre auseinanderlagen. Bei ihr ging es deutlich schneller. Vermutlich war sie schon krank gewesen, lange bevor die Symptome nicht mehr ignoriert werden konnten. Ihre perfekte Körperbeherrschung hatte sich gegen sie gewandt, indem sie eine frühere Diagnose, eine frühere Behandlung verhindert hatte. Andererseits hatte sie ihr auch ermöglicht, ein paar Jahre länger normal zu leben. Unbeschwert.
Doktor Fankhauser schaute in seinen Computer. «Sie haben keinen neuen Schub, Nevada. Aber wir sollten Ihre Symptome ernst nehmen. Letztes Mal haben Sie mir gesagt, dass sich Ihre Depression etwas gebessert hat. Ist seit unserem letzten Treffen etwas Neues passiert?»
«Lassen Sie mich überlegen: Meine Schwester hat mir eröffnet, dass sie das Haus umbaut und die Oase auflöst, ich werde also meine Arbeit und mein Zimmer verlieren â¦Â»
Erschrocken verstummte sie. Wartete auf die unvermeidliche Rückfrage: «Was hat Ihre Schwester denn vor?» Sie konnte sehen, wie Doktor Fankhauser antworten wollte. «Aber es ist okay», kam sie ihm zuvor. «Ich habe eine Wohnung in der Siedlung in Aussicht. Wenn alles klappt, kann ich schon nächsten Monat umziehen. Ted und ich haben alle möglichen Ideen, wie wir mit Yoga die Jugendlichen in der Siedlung besser auffangen könnten â¦Â»
«Das klingt doch gut! Und sonst?»
Nevada zuckte mit den Schultern. «Mir fällt nichts ein.»
«Frau Furrer hat mir erzählt, dass Sie Ihren Termin mit dem von Dante abstimmen wollten. Sie war ein wenig verstimmtdeswegen.»
«Frau Furrer mag mich nicht.»
«Sie macht sich nur Sorgen. Dante ist ein alter Patient.»
Alt, dachte Nevada. Alt hieà nicht jung, nicht zu jung, nicht zu jung für sie. Doch so hatte Fankhauser es nicht gemeint.
«Wir kennen ihn, seit er ein Kind ist», sagte er und winkte dann ungeduldig ab, als habe er schon zu viel gesagt.
«Und was ist Frau Furrers Problem?»
«Nun ja, wir hängen hier alle an ihm, er ist eine Art medizinisches Wunder. Niemand will ihn leiden sehen, verstehen Sie?»
«Nein, ich verstehe nicht â¦Â» Und plötzlich verstand sie doch: «Ich bin nicht wie Sierra!», rief sie laut.
Doktor Fankhauser wurde rot. «Das ist nicht â¦Â»
«Ich bin nicht wie meine Schwester. Ich praktiziere Enthaltsamkeit, seit Jahren schon, und das habe ich ihm sogar gesagt, das habe ich Dante gleich als Erstes gesagt, bei unserem ersten Treffen, obwohl er gar nicht danach gefragt hat! Was meinen Sie, wie peinlich mir das war? Als ob er irgendetwas von mir wollte, er ist doch viel zu jung für mich, und überhaupt, warum sollte er sich für mich interessieren? Und doch wusste ich nichts Besseres zu sagen als: â¹Ich habe übrigens keinen Sex.⺠Gott, ich könnte sterben! Und jetzt kommen Sie mir noch so, als sei ich eine männermordende Pflanze, die sich an Ihrem Lieblingspatienten vergreift, und Frau Furrer, die mich eh schon hasst â¦Â» Nevada verstummte.
«Aber Nevada, so hab ich es doch nicht gemeint. Was meinen Sie, wie oft wir das sehen, Freundschaften, Liebschaften, Verbindungen, die hier im Wartezimmer geknüpft werden oder auf der Bestrahlungsstation oder bei der Chemo ⦠Irgendwann hat man nichts mehr mit den anderen gemein, mit den Gesunden. So gut sie es meinen, aber irgendwann sind die Einzigen, die verstehen, die Einzigen, bei denen man so sein kann, wie man halt drauf ist, die anderen Patienten. Für die Angehörigen ist es auch nicht anders, auch da entstehen Verbindungen, Verwicklungen. Frau Furrer und ich, wir urteilen nicht, wir schauen nur zu.»
«Wenn Sie mit â¹Angehörigen⺠meine Schwester meinen, dann
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