Das wahre Leben
Teigtaschen füllte. Sie arbeitete langsam und konzentriert, sie schaute nicht auf, als Erika hereinkam.
Zusammengewürfeltes Mobiliar, Tische und Stühle für Kinder und Erwachsene. Spielzeug und Bücher. Ein paar Sofas. Eine Kaffeetheke. Eine Pinnwand, die voller Zettel und Bilder steckte. Ein Aufzug, der die oberen Stockwerke des Ãrztehauses bediente.
«Kann ich Ihnen helfen?» Eine dicke Frau mit kurzen, schlechtgeschnittenen schwarzen Haaren und einer Brille stand bei der Lifttür und winkte.
Erika lächelte. «Ich bin gestern hier einzogen», sagte sie. «Und man hat mir geraten, als Erstes das Ãrztehaus aufzusuchen â¦Â» Aufzusuchen, dachte sie. Das klang so gestelzt.
«Ein guter Rat», lächelte die Frau und streckte die Hand aus, so dass Erika nichts anderes übrigblieb, als die paar Schritte zu ihr hinzugehen. «Ich bin Doktor Leibundgut, ich leite das hier.» Sie machte eine vage Geste mit der Hand. «Kommen Sie mit, ich zeig Ihnen alles. Wir haben hier eine Art erweitertes Hausarztmodell. Sie haben die Wahl zwischen fünf Hausärzten und drei Frauenärztinnen. Bei dem Arzt Ihrer Wahl laufen alle Fäden zusammen, Sie entscheiden über alle Untersuchungen, Behandlungen, Ãberweisungen gemeinsam. Hier kennt man Sie. So wie früher auf dem Dorf.» Sie musterte Erika von oben bis unten. «Ich weià nicht, ob Sie das betrifft, aber vor allem bei älteren Patienten sehen wir das Problem der Ãberbehandlung. Wenn der Orthopäde nicht weiÃ, was der Psychiater verschreibt und so weiter â¦Â» Die Lifttür ging auf, Doktor Leibundgut trat ein.
Erika zögerte kurz und folgte ihr dann. Als der Lift anfuhr, senkte sich Erikas Magen. Die beiden Berliner drängten nach oben, sie wünschte sich, sie wäre allein und könnte einen Schluck aus der Wodkaflasche nehmen. Würde Frau Leibundgut ihr die Schlaftabletten verschreiben, die sie brauchte? Die Stimmungsaufheller, die Panikdämpfer, die Angstblocker, die sie seit Jahren schluckte? Unwillkürlich tastete Erika in ihrer Tasche nach der knisternden Blisterpackung, die sie eingesteckt hatte. Nach und nach gingen ihr die Tabletten aus. Ihr Arzt hatte ihr keine neuen Rezepte mehr ausstellen wollen. Sie solle Alternativen suchen, hatte er gesagt. Eine Ayurvedakur. Ein anderes Leben. Das hatte er nicht gesagt. Aber die dicke Inderin hatte ihr versprochen, dass alles leichter würde. Wenn sie nicht mehr das falsche Leben lebte, im falschen Haus. Und tatsächlich fühlte sich der heutige Morgen leichter an als die anderen. Obwohl sie nicht geschlafen hatte. Weil sie nicht geschlafen hatte.
Frau Leibundgut riss sie aus ihren Gedanken. «Tut mir leid. Ich habe dieses Modell mit konzipiert, ich bin seit Anfang hier dabei, es ist mein Baby, ich kann halt nicht aufhören, darüber zu sprechen.»
«Haben Sie denn keine richtigen Kinder?», fragte Erika und bereute die Frage sofort, denn egal, wie die Antwort ausfiel, die Gegenfrage würde lauten: «Und Sie?»
«Entschuldigen Sie, das wollte ich nicht sagen: â¹richtige Kinderâº.»
Die Ãrztin lachte. «Sie wissen nicht, wie treffend Ihre Frage war. Hier.» Sie zog ihr Handy aus der Kitteltasche und klickte sich durch ihre Bildergalerie. «Ich habe fünf Kinder, zwei Stieftöchter und drei eigene.»
«Alles Mädchen?», entfuhr es Erika.
«Lustig, nicht? Das hier ist Emma, die Tochter von meinem Mann, und das ist Mara, unser erstes gemeinsames Kind. Die Zwillinge, kurz nach der Geburt. Und hier, das ist Stefanie, die Ãlteste, die Tochter meines Exmannes. Sie sieht aus wie zwanzig, aber sie ist erst fünfzehn. Sie wohnt zurzeit bei uns. Ich sage Ihnen: Ohne sie wäre ich komplett aufgeschmissen. Drei Kinder in zwei Jahren, das geht nicht spurlos an einem vorbei.» Sie lachte wieder und klopfte sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel. «Wie Sie sehen können!» Und dann kam es: «Und Sie? Haben Sie Kinder?»
«Ich weià es ehrlich gesagt nicht.»
Doktor Leibundgut fragte nicht nach. Das gefiel Erika.
«Ich hätte eigentlich mit meiner Führung unten anfangen sollen, im Eingang. Die Migräne ist morgens ab sechs Uhr geöffnet, bis abends um zehn, wir arbeiten ja mit verschiedenen Beschäftigungsprogrammen zusammen. Haben Sie die Pinnwand gesehen? Das ist unser Internet. Da finden Sie alles, was Sie suchen, Babysitter â¦
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