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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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gewusst. Es war eine große Erleichterung, es endlich zuzugeben, wenn auch nur sich selbst gegenüber. All die Jahre hatte sie sich eingeredet, es gäbe einen guten Grund für ihr Verhalten. Sie brauche mehr «Zeit für sich». Suleika sei «ein schwieriges Kind».
    Wie anstrengend war es gewesen, allen etwas vorzumachen, sogar sich selber. Die Wahrheit war: Sie wusste nicht, wie man ein Kind liebte. Die Mutterliebe hatte sich nicht einfach eingestellt, wie sie das gehofft hatte. Die ersten Tage waren so schwierig gewesen. Und dann der Unfall. Suleika hatte es ihr nicht leichtgemacht. Aber das war keine Entschuldigung. Sie war einfach eine schlechte Mutter.
    Von einem der Kindertische holte sich Erika ein Blatt Papier und einen Becher, der mit abgebrochenen Kreidestiften gefüllt war. Sie breitete das Papier vor sich aus und begann zu zeichnen.
    Â«Was soll das werden?»
    Erika schaute auf. Anna stand vor ihr, ein großes Glas Eistee in einer Hand, eine Teigtasche in der anderen. Erika schaute auf das Blatt, das vor ihr lag. Sie hatte ein Bild über das andere gezeichnet, bis das ganze Blatt schwarz war.

Nevada
1.
    Â«Wir müssen aufhören, uns so zu treffen.»
    Er grinste. «Wie lange … hast du den … geübt?»
    Â«Ich weiß nicht, was du meinst.» Tatsächlich hatte sie den Satz geübt, in der Hoffnung, ihn anwenden zu können. Was nur bedeutete, dass sie gehofft hatte, ihn wiederzusehen. Wie viele Besuche beim Neurologen erforderte ein inoperabler Hirntumor? Sie hatte nicht gewagt, Frau Furrer zu fragen. Aber sie hatte darauf bestanden, dass ihre nächste Kontrolle wieder zur selben Tageszeit und am selben Wochentag stattfand wie der letzte. Sie hatte sich lange überlegt, was sie anziehen wollte. Nicht dass ihre Auswahl besonders groß wäre. Nevada hatte sich nie nach der Mode gerichtet. Ihr Körper hatte schon immer bestimmt, was sie anzog. Als junge Ballettschülerin hatte sie ihre dünnen Glieder in dicke Schichten gehüllt, die ihre Muskeln warm und dehnbar hielten. Als Yogalehrerin hatte sie jahrelang in schwarzen Stretchhosen gelebt. Später hatte sie sich im Shop des Yogastudios eingekleidet, ihren Schülerinnen die immer neuesten Kollektionen vorgeführt. Trägertops, Wickeljacken, Nierenwärmer, das alles war ihr heute zu eng. Ihre Haut protestierte gegen einen Großteil ihrer Kleider. Ihre Nervenenden duldeten nur die leichteste Berührung. Die kühlende Weste, die Nevada im Sommer täglich trug, bedeckte ihre Brust wie ein Panzer. Sie ragte aus dem Ausschnitt der bestickten Bluse, die sie darübergezogen hatte.
    Natürlich hätte sie sich gar nicht so viel überlegen müssen. Das Erste, was Dante sehen würde, war der Rollstuhl. Das Erste, was irgendjemand sehen würde. Das Einzige.
    Â«Dante!» Frau Furrers Ton war scharf. «Herr Doktor Fankhauser wartet auf dich. Warum bist du nicht reingegangen?»
    Â«Ich habe … auf dich … gewartet!»
    Sein Mund verzog sich etwas, als er Nevada zulächelte. Frau Furrer sah aus, als wollte sie ihn mit Gewalt aus dem Stuhl ziehen und aus dem Wartezimmer schieben. Er stand auf und ging an ihr vorbei. Frau Furrers Hand schwebte einen Zentimeter über seiner Schulter in der Luft. Zärtlich, wie von einer Mutter.
    Â 
    Nevada wartete. Dantes Konsultation zog sich in die Länge. War das ein Zeichen? Ging es ihm schlechter? Sie zog ein Notizbuch aus der Seitentasche ihres Rollstuhls – ein großer Vorteil: Sie musste nie mehr ihre Tasche suchen – und schrieb sich die Fragen auf, die sie Doktor Fankhauser stellen wollte.
    Nevada war sich ziemlich sicher, dass sie wieder einen Schub hatte. Die Symptome hatten sich in ihre Körpermitte verlagert. Ihre Eingeweide verknoteten und verkrampften sich. Sie hatte Mühe, mehr als ein paar Bissen hintereinander zu essen. Ein Ziehen in der Brust machte manchmal das Atmen schwer. Das Symptom, das sie von allen zu erwartenden am meisten gefürchtet hatte, ein immer schwerer kontrollierbarer Harndrang, machte sich gerade jetzt bemerkbar. In den letzten Wochen hatte Nevada festgestellt, dass sie auf diese Signale besser sofort reagierte. Ihr einst so zuverlässiges Mula Bandha , ihr guttrainierter Energieverschluss im Beckenboden, ließ sie zunehmend im Stich.
    Wenn sie jetzt zur Toilette rollte, konnte sie es noch schaffen. Aber was, wenn Dante genau dann zurückkam? Wenn er sie

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