Das wahre Leben
ihrem Einzug nicht mehr verspürt. Aber sie war immer noch da, mit ihr verwachsen. Sie öffnete den Mund, um die Wortflut hinauszulassen, die sich in Sekundenschnelle in ihr aufgestaut hatte: Was meinst du eigentlich, wer du bist, schau du doch mal in den Spiegel, wenn wir schon von Zumutung reden! Stattdessen begann etwas anderes in ihr zu zählen: Eins. Zwei. Drei. Und der Moment verging. Ihre Wut rollte sich in ihr zusammen wie ein alter Hund und legte sich dann knurrend wieder schlafen.
«Du solltest all das Zeug, das du nicht mehr brauchst, im Internet versteigern», sagte Suleika jetzt. «Du könntest einen Megareibach machen.»
Hatte sie ihre Tochter falsch verstanden? Hatte sie gar nichts Abfälliges sagen wollen? Wie oft hatte ihre Wut in der Vergangenheit auf etwas reagiert, das gar nicht da war? Oder auf etwas ganz anderes?
«Wenn ich etwas habe, dann ist es Geld», sagte Erika.
«Bist du sicher?»
«Sicher? Ja, natürlich bin ich sicher. Warum fragst du?»
Suleika zuckte mit den Schultern. «Nichts. Ich weià nicht. Ich hab Papa mal am Telefon mit Marga streiten gehört, da dachte ich â¦Â»
«Das musst du falsch verstanden haben. Oma M. hat alles geregelt vor ihrem Tod. Da kann nichts passieren.» Marylou war am letzten Tag des vergangenen Jahres gestorben, rücksichtsvoll direkt vor Anpassung des Erbschaftssteuergesetzes. Erika hatte die Fabrik geerbt, die Villa, den Park, die Möbel, die Bilder, Marylous Schmuck und Georgesâ alte Entwürfe. Die Stelle als Geschäftsführer und das Gehalt von Max waren gesichert bis zu seinem Tod. Es konnte ihnen beiden nichts mehr passieren. Nicht zusammen und nicht getrennt.
Seit der Beerdigung, am kältesten und dunkelsten Januartag ihres Lebens, war Erika nicht mehr im Glarnerland gewesen. Sie hatte weder die Fabrik besucht noch das Haus geräumt. Irgendwann würde sie sich um alles kümmern müssen. Vorerst tat das Marga, wie immer. Sie sorgte dafür, dass das Haus nicht vergammelte, die Leitungen im Winter nicht einfroren, die Wespen im Sommer keine Nester zwischen die Fensterläden bauten. Sie lüftete und wischte Staub. Oder schickte jemanden zum Lüften und Staubwischen. Zum Rasenmähen und für die Quittenernte.
Max schlief nach wie vor in der ehemaligen Chauffeurwohnung über der Garage, wenn er im Glarnerland war. Trotzdem hatten sie nie darüber gesprochen, dass sie die Villa übernehmen, die ganze Woche zusammenleben könnten. Erika hatte noch nicht einmal daran gedacht. Im Haus ihrer Kindheit war der räudige Hund geboren, der in Erikas Herzen schlief. Im Haus ihrer Kindheit waren die Wände dunkel und vor Angst getränkt. Im Haus ihrer Kindheit war für Erika kein Platz. Hier hingegen, in diesem ockerroten Kartenhaus, in dieser Spielzeugsiedlung konnte sie atmen.
«Was liest du denn da?» Suleika stand jetzt in Erikas Schlafzimmer. Sie hatte den Abfallsack auf das Bett geworfen und eins der Bücher aus dem Regal genommen.
Erika wurde rot. «Alle lesen das.»
Suleika grinste. «Mama, voll pervers!»
Erika wusste nicht, wann Suleika sie zuletzt Mama genannt hatte. Das war die Peinlichkeit wert. Erika öffnete den Kleiderschrank. «Schau, hier ist genug Platz für dich und deine Sachen.»
Suleika hängte ihre schwarzen Zelte auf und stellte ihre Schuhe in eine Reihe. Drei Paar Converse-Turnschuhe, drei Paar Flipflops. Wie lange dauerten die Sommerferien noch?
Erika wandte sich ab, als ihre Tochter ihre Unterwäsche in eine Schublade legte. Sie bestellte die Teile übers Internet, in einem amerikanischen Versandhaus für SpezialgröÃen. Sie wusste, dass einer der uferlosen Büstenhalter mit Leopardenmuster bedruckt war, und dass ihre Unterhosen bis zum Knie reichten. Aber sie wollte es nicht sehen.
«Schlafe ich hier?», fragte Suleika.
«Natürlich.»
«Und du?»
«Auf dem Sofa. Oder auch hier.» War in einem Bett genug Platz für sie beide?
Suleika lehnte sich ans Fensterbrett und kratzte den Rest Eis aus dem Becher. Fünfhundert Gramm in fünf Minuten, dachte Erika.
«Schade, dass du keinen Balkon hast.»
«Suleika, wir sind im Erdgeschoss. Alles da drauÃen ist Balkon.»
Erika ging zurück in die Küche. Sie füllte zwei Gläser mit Eiswürfeln und Espresso und stellte sie auf ein Tablett. Sie hatte weder Zucker noch Milch. Auf Besuch war sie nicht
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