Das wahre Leben
aus.
Erika nahm sie. Sie war knochig und kühl. Aus der Nähe konnte Erika sehen, dass er, genau wie Meri hinter der Theke, keine Augenbrauen hatte, keine Wimpern. Erika wusste, was das bedeutete. Einige ihrer Bekannten hatten Brustkrebs gehabt, zwei waren gestorben. Vor einigen Jahren hatte eine Studie eine mysteriöse Häufung von Brustkrebs in den reichen Wohngegenden festgestellt. Das erhöhte Aufkommen lieà sich nicht erklären. Erika war bisher verschont geblieben. Manchmal hatte sie sich heimlich gewünscht, es würde sie treffen. Ein Krebs würde sie aus ihrem gewohnten Leben herausreiÃen. Ein Krebs war Schicksal. Dagegen konnte niemand etwas sagen. Und jetzt schämte sie sich schon wieder ihrer unpassenden Gedanken.
«Erika», sagte Erika. Vielleicht, weil er ihr bei ihrem ersten Besuch im Zendo geholfen hatte, sich zurechtzufinden, fühlte sie sich dem jungen Mann gegenüber verpflichtet. Jeden Morgen wartete sie auf ihn. Er kam nicht immer. Wenn er kam, war er oft sehr bleich. Durchzechte Nächte, hatte sie sich gedacht. Zen und die Kunst, eine Nacht durchzufeiern. Erika beobachtete ihn mit gesenkten Lidern und stellte sich vor, dass er sie auch sah. Dass er sie sah, wie noch niemand sie gesehen hatte, dass er sie erkannte. Sie bildete sich ein, seinen Atem zu spüren, wie er den Raum erfüllte. Manchmal dachte sie an das Flaschenspiel aus den Tagen der unschuldigen Schulpartys, die sie «Fez» genannt hatten. Sie stellte sich vor, wie sie die Flasche mit zwei Fingern anstieÃ, wie sie drehte und dann auf den jungen Mann zeigte. Auf allen vieren sah sie sich durch den Raum auf ihn zukriechen. Langsam, ihn fixierend. Sein Blick blieb die ganze Zeit freundlich und erwartungsvoll. Kurz bevor er sie küsste, senkte sie ihre Lider und zählte. Eins ⦠zwei ⦠Jetzt, wo er tatsächlich neben ihr saÃ, zum Küssen nah, schienen ihr diese Bilder lächerlich. Unangebracht. Sie wischte sie wie Krümel vom Tisch.
«Ich ⦠bin Schriftâ¦steller.» Er sprach seltsam, zögernd, als holte er jedes Wort von sehr weit her.
«Und das gibt dir das Recht, meine Skizzen zu durchwühlen?»
Dante lachte. «Nein, ich â¦Â» Er zeigte auf seinen Kopf. «Hirntumor. Manchmal ⦠finde ich die Worte nicht gleich.» Er nahm ein Buch aus seiner Umhängetasche und reichte es ihr. Es war ein Comicbuch von einem Künstler, den Erika nicht kannte. Fragend schaute sie Dante an.
«Wie ⦠findest du den?»
Erika zögerte. Wie findest du ihn denn?, wollte sie zurückfragen. Sie wollte wissen, was er dachte, bevor sie sich mit einer Antwort festlegte. Um Zeit zu gewinnen, blätterte sie. Die Bilder gefielen ihr nicht. Die Farben waren zu grell, die Figuren waren in dicke schwarze Linien eingesperrt. Aber wenn nun Dante sie selber gezeichnet hatte? Er sah sie immer noch erwartungsvoll an. Was sollâs, dachte Erika, und dann sagte sie zum ersten Mal seit langer Zeit, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, genau das, was sie dachte. Zu ihrem Erstaunen fiel es ihr gar nicht so schwer.
«Autsch», sagte Dante.
Sofort wieder diese Enge in der Brust. Dieses heiÃe Gefühl der Scham. Sie meinte, Max am Tisch stehen zu sehen, spürte seinen halb enttäuschten, halb entnervten Blick. Und gleich hinter ihm stand ihre Mutter, Marylou, die die Lippen zusammenpresste und tadelnd den Kopf schüttelte. Erika wollte sich schon entschuldigen, da sagte Dante: «Und mit dem ⦠soll ich zusammenarbeiten! Ich mag ihn ⦠auch nicht, wie er alles begrenzt mit diesen Linien wie Gartenâ¦zäune!»
Erika lachte. «Genau!», rief sie, vor Erleichterung viel zu laut. Die Gespräche im Raum brachen ab, Meri schaute fragend zu ihnen herüber. Erika senkte ihre Stimme. «Entschuldigung.»
«Nichts zu entschuldigen. Wer ⦠bist du?»
Was für eine Frage. «Wenn ich das wüsste.»
Dante lachte. «Ich meine ⦠für wen arbeitest du, wo kann man deine ⦠Sachen sehen?»
«Ach so. Nirgends. Höchstens hier.» Sie zeigte zur Pinnwand, wo immer noch ihr Flyer hing. Die Zürichbergschnepfe. «Oder dort.» Sie nickte zu dem runden Tisch hinüber, an dem die jungen Väter mit ihren kleinen Kindern saÃen. Und prompt baute sich jetzt ein Knirps vor ihr auf und verlangte eine Lokomotive.
«Welche Farbe?»
«Grün.» Der Junge schmiegte sich an sie.
Er
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