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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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vorbereitet. Sie öffnete die Glastür und stellte die beiden Barhocker hinaus auf den Kiesweg. Sie setzten sich darauf, lehnten sich an die warme Hauswand und streckten die nackten Füße aus. Suleikas Füße waren schmal, weich und gepflegt. Man muss sein Gesicht zeigen, wo man es hat, dachte Erika. Sie wusste nicht mehr, welche Leiterin welcher Modelagentur das zu ihr gesagt hatte. Erikas Gesicht war immer ihr Gesicht gewesen. Bis sie es zerstört hatte. Sie hob das Glas mit dem Eiskaffee. «Ich freu mich so, dass du hier bist», sagte sie.
    Suleika runzelte die Stirn. «Du bist komisch», sagte sie. «Ich meine – anders. Anders komisch.»
    Â«Das ist doch der Sinn der Sache. Dass ich anders werde.»
    Â«Heißt das, du kommst nicht mehr zurück? Heißt das, du bleibst hier?»
    Die Antwort formte sich automatisch in Erikas Mund: Ja, ich bleibe hier. Doch sie wagte nicht, sie auszusprechen, und sagte stattdessen: «Ich weiß es noch nicht.»
    Suleika schien enttäuscht. «Ich finde, du musst jetzt konsequent sein.»
    Â«So?»
    Â«Ja. Du musst es durchziehen. Du könntest dir einen Job suchen. Und dann solltest du ein Handy haben. Und Internet. Und einen Fernseher …»
    Â«Und eine größere Wohnung.» Erika lächelte. Sie wollte nicht, aber sie fragte doch: «Wie geht es denn deinem Vater?»
    Suleikas Gesicht verschloss sich. «Gut.»
    Erika wartete. Was wollte sie hören? Dass er sich nach ihr verzehrte? Dass er bestens ohne sie zurechtkam? Beides, dachte sie. Beides gleichzeitig. Er sollte sie vermissen, ohne sie zurückhaben zu wollen. So konnte sie ein neues Leben beginnen, ohne ihr altes zu entwerten.
    Â«So oft hab ich ihn gar nicht gesehen. Er bereitet die große Indienreise vor, und Marga hilft ihm dabei. Marga ist jetzt ständig in Zürich. Sie hat sogar bei uns übernachtet. Vielleicht sind sie ja jetzt zusammen.»
    Â«Hast du nicht gesagt, sie haben am Telefon gestritten?»
    Â«Schon. Irgendwas mit der Fabrik. Rote Zahlen. Deshalb hab ich ja gefragt, wie sicher das Geld ist.»
    Erika wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
    Suleika zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Es war eine weiche Bewegung. Erika erinnerte sich an das kleine Mädchen, das barfuß vor dem Spiegel getanzt hatte, leicht wie eine Apfelblüte. Und blass. So ein hübsches Gesicht, dachte sie, so geschmeidige Bewegungen, damals. «Ich dachte nur, die Wohnung hier … die ist ja bestimmt billig. Als ob du gewusst hättest, dass wir bald kein Geld mehr haben.»
    Â«Wir haben Geld», sagte Erika streng. «Und Max würde bestimmt nicht nach Indien fliegen, wenn es Probleme in der Fabrik gäbe. Aber wenn es dich beruhigt, kann ich Marga ja mal anrufen.»
    Â«Marga ist doch gar nicht da! Sie fliegt mit Dad nach Indien, das mein ich ja. Früher ist sie noch nie irgendwohin mitgereist.»
    Marga?, dachte Erika. Marga und Max? Konnte es wirklich so einfach sein? Sie zog aus, und Marga zog ein? Leute leben so, dachte sie.
    Â«Dann hat er also Marga mein Ticket gegeben?» Die Wut, die alte Wut.
    Â«Ja, das sag ich doch die ganze Zeit! Mann!»
    Â«Und du? Suleika, das Ticket war doch für dich, Max sollte es auf deinen Namen umschreiben lassen, so war es abgemacht.»
    Â«Bist du blind oder was? Weil ich zwei Sitze brauche! Und es gab eben keinen zweiten Platz mehr. Mann!» Suleika scharrte mit ihren nackten Füßen im Kies und zerkratzte ihren glänzenden blauen Nagellack. Erika versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, was Suleikas ursprünglichen Pläne für die Sommerferien gewesen waren. Die Nulldiät im Krankenhaus, die der Hausarzt vorgeschlagen hatte, hatte sie abgelehnt. Gleichzeitig hallte wie ein Gongschlag Marga in ihrem Kopf nach. Sie konnte sich nicht konzentrieren.
    Â«Und was ist mit deinen Reitferien?», fragte sie schließlich. «Wolltest du nicht mit Caroline in die Camargue fahren?» Erika verstummte. Warum hatte sie nicht besser aufgepasst?
    Â«Meinst du wirklich, der Tierschutzverband würde zulassen, dass ich auf ein Pferd sitze? Das arme Viech würde ja tot umfallen!»
    Â«Sully …»
    Â«Ist schon okay. Ich weiß, dass ich fett bin. Ich hab kein Problem damit. Mir stinkt es nur, dass du kein Handy hast und dass man dich nicht erreichen kann und dass ich mit all meinen Sachen hierher trecken musste, mit dem Zug und

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